Der Ort, an dem Rungholt versank

Neue Funde im Wattenmeer sorgen wieder für Streit in der Wissenschaft: Wo lag die sagenhafte Stadt

Ragen die Holzbohlen schon lange aus dem Watt? Oder hat sie die letzte Flut dort freigelegt?“ Am 16. Mai 1921 machte Marschbauer Andreas Busch bei seinem Gang durchs Watt eine Entdeckung, für die sich offenbar noch niemand interessiert hatte – und die sein Leben grundlegend veränderte. Am Jahresende notierte er: „Entdeckte in diesem Sommer bei Südfall die Stelle, wo früher der Flekken Rungholt gelegen hat.“

Rund dreihundert Jahre zuvor stießen Wanderer bereits auf mysteriöse Spuren im Wattenmeer um die nordfriesische Hallig. Hier lagen haufenweise Scherben, dort entlang zog sich die gerade Linie eines ehemaligen Entwässerungsgrabens. „In der Tat verkehren Menschen und Tiere ohne Gefahr von Trindermarsch nach Südfall, und hier entlang gehende Leute stoßen im Schlick auf Brunnen und beobachten Spuren von Wegen und Gräben. Ja, sie finden nicht selten Töpfe, Kessel und Schüsseln und anderes Hausgerät“, beschreibt Pastor Matthias Boetius 1623 die seltsamen Funde in seinem Werk „De Cataclysmo Nordstrandico“. Zur gleichen Zeit sammelt der Chronist Peter Sax in seiner Beschreibung der Insel Nordstrand systematisch die Berichte von Augenzeugen: Von Warften, den künstlich aufgeworfenen Erdhügeln, auf denen einst Häuser standen, von Brunnen, Gräben und Äckern berichten ihm Zeitgenossen.

Zweifelsfrei hatte das Wattenmeer Anfang des 17. Jahrhunderts Teile einer alten Siedlung freigegeben. Und plötzlich erinnerten sich die Menschen wieder an eine Prophezeiung ihrer Ahnen. „Alte abergläubische Leute stehen im Wahn“, notierte der Nordstränder Pastor Anton Heimreich in seiner Heimatchronik, „daß dieses Rungholt einmal wieder werde auferstehen. Und daß auch von den Vorüberfahrenden der Glockenklang noch jetztunder gehöret werde...“ Schließlich machte sich der Kartograph Johannes Mejer ein Bild von den Spuren im Watt und zeichnete einen „Abriss uon Rungholte und seinen Kirchenspielen anno 1240“, auf dem er den – wie er annahm – um 1300 versunkenen Ort nördlich der Hallig Südfall lokalisierte. Die Karte fand große Verbreitung.

Während die Legende von einer reichen, in den Sturmfluten versunkenen Stadt weit über Friesland hinausgetragen wurde, versanken die Siedlungsreste langsam, jedoch unaufhaltsam wieder im Wattenmeer. Denn Ebbe und Flut stellen hier ein unglaublich dynamisches System dar. Zweimal täglich strömen zwei Milliarden Kubikmeter Meerwasser ins Schleswig-Holsteinische Wattengebiet, wodurch sie unentwegt den Küstenverlauf verändern. Sturmfluten verschlingen ganze Landstriche und mit ihnen Dörfer, Vieh und Menschen. Die Nordsee trägt die Wattsedimente an der einen Stelle ab, um sie an einer anderen wieder aufzuschütten – und legt dabei auch immer wieder Spuren vergangener Zeiten frei.

An die Spuren im Watt, dem eigentlichen Auslöser der vielen Rungholt-Geschichten, konnte sich im 19. Jahrhundert niemand mehr erinnern. Um so mehr schwelgte die Phantasie und vermischte Fakten mit Erdachtem. Erzählungen von Atlantis und der Sintflut fanden Eingang in die Geschichte, die zu einer Volkssage heranreifte. Mit seinem Gedicht „Trutz, blanke Hans“ – von Generationen norddeutscher Schulkinder auswendig gelernt – setzte der Lyriker Detlev von Liliencron den Rungholt-Sagen 1882 ein bleibendes Denkmal. Besonders die letzten Strophen malen das Geschehen arg bunt aus:

„Rungholt ist reich und wird immer reicher,
Kein Korn mehr faßt selbst der größte Speicher.
Wie zur Blütezeit im alten Rom
Staut hier täglich der Menschenstrom.
Die Sänften tragen Syrer und Mohren,
Mit Goldblech und Flitter in Nasen und Ohren.
Trutz, blanke Hans.

Auf allen Märkten, auf allen Gassen
Lärmende Leute, betrunkene Massen.
Sie ziehn am Abend hinaus auf den Deich:
,Wir trutzen dir, blanker Hans, Nordseeteich!‘
Und wie sie drohend die Fäuste ballen,
zieht leis aus dem Schlamm der Krake die Krallen.
Trutz, blanke Hans ...

Ein einziger Schrei – die Stadt ist versunken,
Und Hunderttausende sind ertrunken.
Wo gestern noch Lärm und lustiger Tisch,
Schwamm anderntags der stumme Fisch.
Heut bin ich über Rungholt gefahren,
Die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.
Trutz, blanke Hans?“

Die Holzbohlen, die Andreas Busch 1921 entdeckte, erwiesen sich als Reste eines Schleusentores. In seiner knappen Freizeit und im Selbststudium erlernte der Marschbauer fortan die Grundzüge von Kartographie und Archäologie und suchte über 40 Jahre lang nach Spuren vergangener Kulturen im Watt rund um die Hallig. Nach und nach rekonstruierte er eine geschlossene Deichlinie rund um Südfall. Neben zahlreichen Kleinfunden wie Keramikscherben, Bronzetöpfen und Waffen konzentrierte er sich auf Zeichen vergangener Bebauung. Leicht waren die Areale ehemaliger Warften an ihrem im Vergleich zum übrigen Wattboden stark verfestigten Untergrund zu erkennen. Schließlich identifizierte und kartierte Busch 29 dieser Siedlungshügel. Auch ehemalige Brunnen, deren Ringe aus Kleisode im Wattboden noch zu erkennen sind, wenn die Flut schon längst alle anderen Kulturzeichen hinfortgespült hat, hinterließen ihre dauerhaften Spuren.

Vier Quadratkilometer Wattfläche erforschte Busch, in rund 130 Aufsätzen veröffentlichte er seine Funde und Schlußfolgerungen, die schließlich auch in der Fachwelt anerkannt wurden. Im Alter von 80 Jahren verlieh ihm die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel ihre Universitätsmedaille. Doch Buschs Ergebnisse entzauberten die Legenden über das sagenumwobene, reiche Rungholt. „Man hat von ganz primitiven Verhältnissen auszugehen“, resümierte er. Rund 1000 Menschen lebten in Rungholt, ergaben seine Hochrechnungen aus den gefundenen Brunnen und Warften. Und die große Sturmflut vom 15. bis 17. Januar 1362, als „Erste Mannsdränge“ überliefert, zerstörte Rungholt nicht auf einen Schlag, sondern nur das Gebiet westlich des Wattenstroms Norderhever. Erst im 15. und 16. Jahrhundert versanken weitere Teile von Rungholt im Meer. Im Laufe der Jahrzehnte seiner Forschungen erodierten auch die Kulturspuren im Watt. 1956 konnte Busch nur noch feststellen: „Es ist nichts mehr zu sehen!“

„Ohne die Arbeiten von Busch wäre unser Wissen über Rungholt viel ärmlicher, denn die phantastischen Bedingungen der zwanziger Jahre haben sich nicht wiederholt“, erklärt der Schleswig-Holsteinische Landesarchäologe Hans-Joachim Kühn. „Heute sind so gut wie keine Spuren sichtbar.“ Bei ihren alljährlichen Begehungen des Watts setzen die Archäologen unter anderem Metalldetektoren ein. In anderen Grabungsgebieten – wie in Alt-List auf Sylt – finden sie so allerhand Metallgegenstände. Damit hatte Kühn eigentlich auch im Rungholt-Gebiet gerechnet, doch die Ergebnisse setzen die Desillusionierung fort: „Wir fanden nichts, was auf Reichtum schließen ließe. Kein Silber und Gold, nicht einmal Münzen.“

Trotzdem bietet Rungholt auch besondere Entdeckungen: Tausende von Keramikscherben und ganze Gefäße bestätigen Handelsbeziehungen bis ins Rheinland, in die Niederlande und nach Spanien. Eine richtig angelegte Hafenanlage wurde nicht gefunden, Rungholt verfügte wohl nur über einen Sielhafen. Diesem kam jedoch als Umschlagplatz zwischen dem Schiffs-Fernhandel und dem Hinterland eine wichtige Bedeutung zu. Denn nur hier am Norderhever bestand für Schiffe die Möglichkeit einzulaufen.


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mare No. 10

No. 10Oktober / November 1998

Von Wolfgang Korn

Wolfgang Korn, Jahrgang 1958, studierte Geschichte und Politische Wissenschaft. Er arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist mit den Schwerpunkten Umwelt und Archäologie in Hannover

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