Der Lichtmagnet der „Nishin Maru“

Tintenfische werden nicht gefischt, sondern geangelt – mit der „Schluckauf-Maschine“

Der Alptraum ist kein gutes Omen. Hiroyoshi Uchida (46) weiß es aus Erfahrung. Wenn aus dem Tiefschlaf die Tintenfische kommen, ihn anspringen, ihre kalten, nassen Arme um seine Haut schließen, sich an Körper und Gesicht festsaugen, so daß er zu ersticken meint und schwer atmend erwacht, dann grollt Funadama-Sama, die Göttin des Meeres. Nach dem letzten Traum schickte sie Delphine, das Feuer und den Vollmond – die natürlichen Feinde eines jeden Tintenfischfängers.

Die Delphine vertrieben die Sepien. In der zweiten Nacht brannte ein Boot. Uchidas Kapitän ließ den Fang abbrechen und eilte zu Hilfe. In der dritten Nacht nach dem Traum lähmte der gleißende Mond die Kraft der Lichtanlage an Bord.

„Verdammter Job“, flucht der Maat, zerdrückt seine Zigarette und zündet sich eine neue an. „Jeden Tag raus. Auch sonntags. Wäre da nicht das Geld, ich würde irgendwo gemütlich an einem Schreibtisch sitzen und abends Feierabend machen.“ Doch wo kann man als ungelernte Kraft schon jährlich 150 000 Mark verdienen? Die „Nishin Maru“, „Schiff der neuen Sonne“, ist wieder unterwegs. Am Nachmittag hatte sie den Hafen Sakai-Minato im Nordwesten Japans verlassen. 800 PS schieben den 29-Tonner mit zehn Knoten aufs Japanische Meer hinaus.

Vier Stunden Fahrt Richtung Südkorea, und die vierköpfige Mannschaft ist am Ziel. An Yamato-Tai, einer Zone, wo die warme auf die kalte Strömung trifft, bildet sich Plankton, Nahrung unzähliger kleiner Fische, die wiederum zur Nahrung von Tintenfischen werden. 450 verschiedene Arten gibt es weltweit. Einhundert davon sind eßbar und leben im Japanischen Meer.

Riesensepien erreichen eine Länge von 16 Metern. Im normalen Fang jedoch sind die Tiere 35 bis 120 Zentimeter groß. In Japan heißen sie „Ika“, Vogelräuber, weil sie – so uraltes Anglerlatein – Krähen an die Wasseroberfläche locken, sie packen, in die Tiefe ziehen und fressen.

Wolken! Funadama-Sama zeigt sich versöhnt. Unter dem Schiffsrumpf der „Nishin Maru“ angebrachte Unterwasserkameras und Sensoren messen die Dichte des grünen Planktons. Die „Nishin Maru“ ankert. Das Meer ist ruhig. Die Nacht ist schwarz. Möwen umkreisen im Tiefflug das Schiff.

Mit einem Ruck klappen die automatischen Angeln aus der Bordwand, zwölf Maschinen auf jeder Seite. Reifengroße Holztrommelpaare lassen über Metallspulen langsam die ersten Meter eisenbeschwerte Schnur ins Wasser.

Kapitän Sumito Araki (48) schaltet die Lampen an. Es sind hundert. Sie hängen, dicht an dicht, wie Lampions in einem ländlichen Sommerfest von einem Mast zum anderen über die Längsseite des Fischdampfers. Doch ihr ultraviolettes Licht ist weiß, kalt, vernichtend. Es brennt sich in Augen und Haut. Jede einzelne Birne strahlt mit 4000 Watt. Zusammen erreichen sie die Scheinwerferwucht von vier Fußballstadien.

Auf dem 40. Breitengrad zwischen der koreanischen Halbinsel und dem japanischen Archipel treiben regelmäßig 300 bis 400 Tintenfischkutter mit Bordlampen dieser Art. Wie Nachtaufnahmen eines Militärsatelliten zeigen, beleuchtet die Flotte eine Fläche von der Größe der Schweiz (siehe Karte Seite 50/51).

Es dauert eine halbe Stunde, bis die flaschengroßen Ampeln der „Nishin Maru“ ihre volle Brennkraft erreichen. Eine Persenning unter den Lampenketten fängt die Lichtflut auf, schützt die Fischer auf dem Frachtdeck vor den gefährlichen UV-Strahlen. Hiroyoshi Uchida, der Schiffsjunge Nozomi Ikuda (20) und Kombüsenkoch Kenji Yamamoto (48) warten. Wie ein Magnet zieht das Licht das Plankton nach oben. Die Tintenfische folgen. Araki gibt Daten wie Wassertemperatur, Strömung und Planktonvolumen in den Computer ein. Elektronisch gesteuert gewinnen die Maschinen nun an Tempo. Pausenlos wird die Angel ins Wasser gelassen und wieder hochgezogen. Jede Maschine hat dabei ihren eigenen Rhythmus. Die Rhombenform der Trommeln verhindert ein rundes Ab- und Aufdrehen der Schnur, so daß eine zuckende Bewegung entsteht. Fingerdicke Silikonköder in Ein-Meter-Abständen mit kranzförmig angelegten Rundhaken laufen im versetzten Takt über die Metallspulen... Klack-Klack... Klack-Klack... Klack-Klack... Die japanischen Fischer nennen die Angeltechnik „Shakkuri“, zu Deutsch: Schluckauf.

Jetzt beginnt der Fang. Die ersten Tintenfische umschlingen die bläulich und grünlich phosphoreszierenden Köder. Der Schwung, mit denen die Tiere heraufgezogen werden, löst sie von den Angelhaken und schleudert sie im hohen Bogen an Deck. Ein Teil bleibt in den Blechrinnen entlang der Reling liegen. Einige landen auf den Planken.

Es werden immer mehr Tintenfische. Periodisch hängt jetzt an jedem Köder ein Tintenfisch – zuweilen sogar zwei. Wenn der Fang optimal läuft, bollern die 24 Maschinen auf Hochtouren. Jede Sekunde ein Kopffüßer, und das mal 24. Dann regnet es Tintentische. Für Kapitän Araki klingt ihr dumpfer Aufprall wie Trommelschläge. Die Meerestiere bäumen sich auf, spucken Wasser und Tinte. Ihr zischendes Pfeifen begleitet den Todeskampf. Doch ein solches ekstatisches Massaker hält nur einige Minuten an. Als die Fangleinen eingeholt sind, wird es ruhig.

Der Kapitän stellt die Maschinen ab. Am Boden liegen sich windende, braunrosa schimmernde, zylindrische Wesen. Arakis Crew sammelt die Sepien ein und sortiert sie in mit Eiswürfeln gefüllte Styroporkisten. Auf dem Weg zum Markt oder in die Fabrik sollen sie frisch bleiben. Dann geht der Fang weiter, in Intervallen, wie gehabt. Um drei Uhr morgens zählt der Kapitän die Ausbeute: 500 Kisten à 30 Tintenfische. Er lächelt zufrieden. Zwei Millionen Mark mußte er für sein High-Tech-Schiff hinlegen. An Tagen wie heute hat sich die Investition gelohnt.

Schon seit Jahrhunderten ernährt der Tintenfisch die Menschen in diesem Teil Japans. Und er nährt ihre Mythen. Das Gesicht des 72jährigen Tadayoshi Kametani ist rauh wie die Fassade eines Schreins. Die Finger knorrig wie die Rinde alter Zedern. Und seine Familie so alt wie die Legende der Prinzessin Yura. Das zumindest nimmt Tadayoshi Kametani an, genau weiß er es nicht. Er ist Sepien-Fischer. Seine Vorfahren waren es. Und noch immer leben die meisten der 4000 Einwohner von Nakano-shima vom Fang der Tintenfische. Hier, auf der mittleren der drei Oki-Inseln vor der Küste Sakai-Minatos, schlagen die Uhren langsamer. Mythologische Gestalten und Dämonen nehmen den Kampf gegen die seelenlose Technologie auf.

Tadayoshi Kametani entzündet ein Weihrauchstäbchen, schließt die Augen, faltet die Hände zum Gebet. Die schweren Balken des Pagodendachs werfen warme Schatten. Zu Füßen der shintoistischen Heiligenstätte schmiegt sich die Yurahama-Bucht wie eine Katze im Mittagsschlaf. Der verwitterte Fischer erzählt:

„Vor über tausend Jahren gab es eine Schlacht zwischen dem Shogun Murakami Suigun und den göttlichen Kräften. Der Mensch gewann, und die göttliche Prinzessin Yura floh mit dem Schiff zu den Inseln von Oki. Auf dem Weg geriet sie in einen Taifun. Ein gigantischer Tintenfisch griff die Prinzessin an. Er spie seine schwarze Tinte über ihr kunstvoll frisiertes Haar und ihre goldenen Gewänder. Seither kommen die Tintenfische jedes Jahr im Herbst zum Schrein der Prinzessin Yura und bitten um Vergebung für die angetane Schmach.“

Bis vor 20 Jahren war es noch so. Im Oktober trieben Tintenfischpärchen zu Tausenden in die Bucht. „Man hörte sie“, erzählt Kametani, „ein Rauschen, ein Meeresflüstern. Sie schwammen ganz nah heran, ließen sich mit der Hand greifen.“ So mancher Fischer fing an einem Tag genug, um sich von dem Erlös ein Haus zu bauen, ein neues Boot zu kaufen oder Felder zu erwerben. Kametani selbst schaffte in nur wenigen Stunden 400 Kilogramm.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 9. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 9

No. 9August / September 1998

Eine Reportage von Myrte Müller und Jean Gaumy

Myrte Müller ist Korrespondentin deutscher Zeitungen in Japan und wohnt in der Hafenstadt Osaka. In mare No. 5 erschien ihr Bericht über ein Kugelfisch-Restaurant in ihrem Wohnort.

Jean Gaumy ist Fotograf der Agentur Magnum und lebt in Fécamp, Frankreich. Reportagen über den Fischfang gehören zu seinen Arbeitsschwerpunkten

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Vita Myrte Müller ist Korrespondentin deutscher Zeitungen in Japan und wohnt in der Hafenstadt Osaka. In mare No. 5 erschien ihr Bericht über ein Kugelfisch-Restaurant in ihrem Wohnort.

Jean Gaumy ist Fotograf der Agentur Magnum und lebt in Fécamp, Frankreich. Reportagen über den Fischfang gehören zu seinen Arbeitsschwerpunkten
Person Eine Reportage von Myrte Müller und Jean Gaumy
Vita Myrte Müller ist Korrespondentin deutscher Zeitungen in Japan und wohnt in der Hafenstadt Osaka. In mare No. 5 erschien ihr Bericht über ein Kugelfisch-Restaurant in ihrem Wohnort.

Jean Gaumy ist Fotograf der Agentur Magnum und lebt in Fécamp, Frankreich. Reportagen über den Fischfang gehören zu seinen Arbeitsschwerpunkten
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