Aäron Fabrice de Kisangani ist ein Strandgutsammler. Sein Name ist kein Künstlername oder Pseudonym. Er steht so in seinem Personalausweis. Aäron bedeutet im Hebräischen „Der das Licht bringt“, Fabrice ist ein italienischer Name und Kisangani ist eine tief im Dschungel von Kongo gelegene Stadt. Es ist die letzte Stadt an der großen Biegung des Kongo-Stroms, die noch mit dem Schiff zu erreichen ist. Doch Aäron geht seiner Arbeit nicht an dem Fluss in Afrika, sondern an der belgischen und nordfranzösischen Küste nach.
Jeden Tag sieht Aäron die Nordsee. Sein offizieller Beruf ist Rattenfänger, doch nach oder vor den Arbeitsstunden ist er nur an einem Ort zu finden: am Strand. In jeder freien Minute läuft er, bewaffnet mit Taschenlampe, Feldstecher, Taschenmesser und Jutesack die Flutlinie entlang. Seine biologische Uhr richtet sich nicht nach Tag und Nacht, sondern nach Ebbe und Flut. Mit acht Jahren begann er mit dem Sammeln von Muscheln, fünf Jahre später fand er die abgebrochene Tabakspfeife eines Seemanns, und seither hat er nicht mehr damit aufgehört.
Aäron schaut voller Erwartung auf den Meeresschaum und hütet sorgsam jeden gesammelten Gegenstand. Alles, was vor seinen Gummistiefeln angespült wird, kann potenziell für ihn interessant sein. Glibberiger Tintenfischlaich, fluoreszierende Meeresleuchttierchen, die seltene Kolumbuskrabbe, ein erschöpfter Eissturmvogel, eine von Seepocken überwachsene Boje, tropische Schwimmsamen, fossile Haizähne, versteinerter Bernstein, winziges Plankton und vor nicht allzu langer Zeit sogar ein gestrandeter und vor seinen Augen sterbender Schwertwal. Klein, groß, tot, lebendig, schön oder hässlich – für Aäron macht das keinen Unterschied. Jeder Schatz, den das Meer anspült oder die Brandung ausspuckt, kann ihn in Verzückung versetzen.
Wenn ich nachts oder in den frühen Morgenstunden einen Anruf bekomme, weiß ich, dass es Aäron ist, der unbedingt seine Begeisterung über seine neueste Beobachtung mitteilen muss. Dann höre ich nicht nur seine vom höchsten Glücksgefühl erregte Stimme, sondern immer auch im Hintergrund das Brausen der Brandung oder das Rauschen des Winds.
Vor ein paar Monaten hat er nicht angerufen. Im Licht seiner Taschenlampe entdeckte er nachts seinen bis dahin wertvollsten Fund: ein sorgsam mit Klebeband umwickeltes Kilogramm Kokain. Er rief in weiser Voraussicht die französische Gendarmerie. Für ihn war die exotische Steinnuss, die er in derselben Nacht vor Tagesanbruch gefunden hatte, von größerem Wert.
Dieser ungewöhnliche junge Mann mit der Seemannskappe, den welligen Haaren, Sommersprossen und hellen Augen beobachtet so intensiv, dass er seinen Fund schon von Weitem liegen sieht, und er achtet peinlich genau darauf, dass sein Begleiter nicht etwa verborgene Schätze mit den Füßen in den Sand tritt.
Er ist der wundervollste Autodidakt, den ich kenne. Seine Garage ist voll mit gesammelten Bojen, Netzen, Treibholz, einem Armeegewehr und einer Kühltruhe für die Aufbewahrung seiner zahllosen Lebewesen aus dem Meer. Kartons, Mappen, maritime Bücher, Gezeitentafeln und Seekarten liegen auf seinem Esstisch, auf dem Schreibtisch daneben steht sein Binokularmikroskop, umgeben von Dutzenden Gläsern, in denen er die Auswirkungen des Klimawandels beobachtet. Ein Eimer mit Seewasser, bewohnt von zwei Seesternen und einer Pirimelakrabbe, steht in seinem Wohnzimmer, das zunehmend einem maritimen Forschungszentrum ähnelt. Bei Nordwestwind hört er von seinem Bett aus die Wellen rauschen, bei Windstille kann er am Geräusch der Brandung wahrnehmen, ob gerade Ebbe oder Flut ist.
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Stephan Vanfleteren, Jahrgang 1969, lebt als Fotograf im flandrischen Veurne. Zuletzt erschien von ihm in mare No. 133 eine Porträtserie über Surfer in aller Welt.
| Lieferstatus | Lieferbar |
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| Vita | Stephan Vanfleteren, Jahrgang 1969, lebt als Fotograf im flandrischen Veurne. Zuletzt erschien von ihm in mare No. 133 eine Porträtserie über Surfer in aller Welt. |
| Person | Von Stephan Vanfleteren |
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| Vita | Stephan Vanfleteren, Jahrgang 1969, lebt als Fotograf im flandrischen Veurne. Zuletzt erschien von ihm in mare No. 133 eine Porträtserie über Surfer in aller Welt. |
| Person | Von Stephan Vanfleteren |