Der Irrtum seines Lebens

Der Thüringer August Heinrich Petermann war im 19. Jahrhundert der bedeutendste Kartograf. Er verhalf Gotha dazu, das Weltzentrum der Geografie zu werden. Ein einziger Irrtum des visionären Genies aber führte etliche Arktisfahrer in den Tod

Behutsam legt Petra Weigel eine große, graue Pappmappe auf den Holztisch. Langsam öffnet sie den Deckel, bloß nichts knicken. „Das sind die Karten von der Arktis, in die Petermann seine Notizen eingezeichnet hat“, sagt sie und deutet auf die feinen roten Pfeile, die auf Punkte rund um den Nordpol weisen. Nördlich von Sibirien steht in dünner Handschrift „Offenes Wasser im März und April“, östlich von Grönland heißt es „Oft Regen bis Januar“. „Im Grunde sind das lauter Hinweise darauf, wie Petermann seine Idee vom eisfreien Nordpol entwickelt hat.“

Weigel ist Historikerin an der Forschungsbibliothek Gotha und verantwortlich für eines der wichtigsten geografischen Kartenarchive der Welt: die Sammlung Perthes, die die Essenz der rund 250-jährigen Geschichte des Verlagshauses Justus Perthes aus Gotha enthält. In Dutzenden Regalen, Schubladenschränken und großen Schutzmappen lagern mehr als 200 000 Land- und Seekarten, Kupferstichplatten, Atlanten, Skizzen und Drucke.

Es ist August Heinrich Petermann, der aus dieser langen Geschichte herausragt, der Mann mit Nickelbrille, Seitenscheitel und Vollbart, der 1854 als Chefkartograf und wissenschaftlicher Leiter in das Verlagshaus einsteigt. Damals ist der Verlag vor allem in Deutschland für seine hochwertigen Atlanten, Enzyklopädien und den „Gothaischen Hofkalender“ bekannt. Gotha ist zu jener Zeit eine kleine Residenzstadt, die versteckt zwischen den sanft gewellten Hügeln Thüringens liegt, inmitten weiter Getreidefelder. Von Gotha sind es zwei Tagesreisen mit der Dampfeisenbahn bis ans Meer, bis nach Bremen oder bis an die Elbe nach Hamburg. Petermann aber macht das Verlagshaus und die Stadt Gotha in nur wenigen Jahren in der Szene der Geoforscher und Entdecker weltbekannt, weil er ein begnadeter Kartenzeichner und zugleich ein gewiefter Netzwerker ist, der wissenschaftliche Expeditionen in die unbekannten Regionen der Welt organisiert.

Wer den Namen August Heinrich Petermann nachschlägt, bekommt hingegen schnell den Eindruck, dass Petermann ein verrückter Visionär und Versager war: Petermann, der Mann, der an den eisfreien Nordpol glaubte und so den Arktisfahrern falsche Ratschläge für die vermeintlich beste Nordpolarroute mit auf den Weg gab. Er schickte ungewollt zahlreiche Seefahrer in den Tod. Sie starben elend im Eis, wo eigentlich keines sein sollte.

Petermann hatte sich mit Meeresströmungen befasst, dem Kuroshio zum Beispiel, einem warmen Strom, der vom Äquator an Japan vorbei gen Norden zieht. Er war überzeugt, dass der Kuroshio warmes Wasser durch die Beringstraße in die Arktis pumpt. Dort kreise das warme Wasser um den Nordpol und halte ihn eisfrei. Nur an den Rändern – an den Küsten Kanadas, Russlands und Grönlands – befände sich dichtes Packeis, das sich aus dem Süßwasser der Flüsse und Gletscher speise. Polarfahrer müssten nur diesen Gürtel durchbrechen, um in die eisfreie Zentralarktis vorzustoßen. Petermann wertete die Reiseberichte und Logbücher von Walfängern aus. Hinweise wie „Oft Regen bis Januar“ bestärkten ihn in seinem Glauben. Wie man heute weiß, lag Petermann völlig falsch.

Für die Historikerin Weigel aber steht fest: „Die Geschichte um den eisfreien Nordpol verzerrt das Bild Petermanns. Denn für die Kartografie und die Erforschung unbekannter Gebiete hat er Großes geleistet.“ Vor allem mit seiner Fachzeitschrift „Petermanns Geographische Mitteilungen“, abgekürzt „PGM“, die am 16. März 1855 erstmals erscheint, erarbeitet sich Petermann einen Weltruf. Die Hauptgeschichte der ersten Ausgabe ist die des deutschen Afrikaforschers Heinrich Barth. Diesem war es gelungen, die sagenumwobene Stadt Timbuktu zu besuchen. Andere Forscher waren in den Jahrzehnten zuvor in Timbuktu von Einheimischen getötet worden oder auf den Reisen umgekommen. Barth aber gelang es, unter dem Schutz einheimischer Geistlicher, länger in Timbuktu zu bleiben und die Geschichte der Stadt zu erforschen. Sein Reisebericht in der Erstausgabe schlägt deshalb in ganz Europa und auch in den USA Wellen.

Überhaupt sind Reiseberichte aus fernen Ländern damals en vogue. In den 1820er-Jahren hatte der Naturforscher Alexander von Humboldt die Begeisterung für das Exotische auch in Deutschland entfacht. Auf dieser Welle schwimmt Petermann, der mit seinen „PGM“ etwas Einzigartiges erschafft: Es sind die detaillierten Karten, die die Berichte der Naturforscher ergänzen.

Seinerzeit gelten die offiziellen Seekarten der britischen Admiralität als die besten. Auf ihnen befinden sich auch kleine Skizzen, die charakteristische Küstenlinien oder Inseln im Detail zeigen – zur besseren Orientierung für die Seefahrer. Petermann und seine Mitarbeiter aber kreieren eine ganz neue Dimension von Karten. Sie setzen Farben ein, um verschiedene Landschaftsformen darzustellen. Sie verwenden verschiedene Schrifttypen, entwickeln eigene Symbole, mit denen sie Details wie Berge, Regionen oder Städte darstellen. Solche kartografischen Details sind heute selbstverständlich, damals aber brandneu.

„Hinzu kommt die ungeheure Präzision der Karten, die uns heute, im Zeitalter von GPS, staunen lässt“, sagt Weigel. An Expeditionsreisen nehmen damals häufig Astronomen teil, die neu entdeckte Berge, Inseln oder Landmarken nach den Sternbildern verorten. Trotzdem sind die Angaben nicht immer genau. Und manche Abenteurer verzichten ganz auf Astronomen, was zu vielen Fehlern bei den Ortsangaben führt. Petermann und seine Leute wissen um das Problem und kombinieren die Angaben verschiedener Forscher und mehrerer Expeditionen miteinander. Sichere astronomische Daten gelten als Referenz, um unklare Ortsangaben abzusichern oder zu korrigieren. Weigel: „So haben die Kartografen hier in Gotha am grünen Tisch den Daten aus Vermessungstagebüchern und Berichten erst den letzten Schliff gegeben und äußerst präzise Karten angefertigt, die es damals in dieser Form kaum gab.“

Und noch etwas macht die Karten in den „PGM“ besonders: Die Routen der Entdecker sind darin eingezeichnet und mit Kommentaren versehen – etwa die Etappen der Arktisexpeditionen, die in Gotha um die Entdeckungsdaten von Inseln ergänzt werden. In Afrika ist von „undurchdringlichem Buschland“ zu lesen, von „militärischen Vorposten“ oder Plätzen, an denen die Entdecker biwakierten. Zusammen mit den Schilderungen von den Expeditionen ergibt das faszinierenden Lesestoff, der nicht nur bei Forschern, sondern auch bei den Bildungsbürgern gut ankommt.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 129. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 129

August / September 2018

Von Tim Schröder

Bei seinem Besuch der Sammlung Perthes in Gotha staunte Tim Schröder, geboren 1970, Wissenschaftsjournalist in Oldenburg, über die filigranen Gravuren in den Kupferstichplatten. Und darüber, dass die Karten damals teilweise mit Kaffee eingefärbt wurden.

Mehr Informationen
Vita Bei seinem Besuch der Sammlung Perthes in Gotha staunte Tim Schröder, geboren 1970, Wissenschaftsjournalist in Oldenburg, über die filigranen Gravuren in den Kupferstichplatten. Und darüber, dass die Karten damals teilweise mit Kaffee eingefärbt wurden.
Person Von Tim Schröder
Vita Bei seinem Besuch der Sammlung Perthes in Gotha staunte Tim Schröder, geboren 1970, Wissenschaftsjournalist in Oldenburg, über die filigranen Gravuren in den Kupferstichplatten. Und darüber, dass die Karten damals teilweise mit Kaffee eingefärbt wurden.
Person Von Tim Schröder