Der Inseltraum des Goldfasans

Deutsche Rüstungsexperten, getarnt als Forstwirtschaftler, erkunden am Vorabend des Zweiten Weltkriegs eine Insel vor Kanadas Ostküste. Was führen sie tatsächlich im Schilde?

Es ist einer dieser kalten sonnigen Spätherbsttage 1937 in Montréal, und nichts deutet darauf hin, dass William Glyn

einen wichtigen Beitrag zu einer denkwürdigen Episode in den deutsch-kanadischen Beziehungen leisten wird, der höchste diplomatische und militärische Kreise der beiden Länder alarmiert. Die Sonne ist eben hinter dem Hausberg der Stadt, dem Mont Royal, untergegangen, die letzten Strahlen berühren die Dächer des altehrwürdigen „Mount Royal Hotel“ an der Peel Street. William Glyn, Korrespondent mehrerer Zeitungen in Kanada, USA und Großbritannien, vertieft sich im Restaurant ins Menü, als eine Abendgesellschaft nebenan Platz nimmt: 13 Männer mittleren Alters, die europäisch gekleidet sind und sich leise unterhalten.

Glyn, der einige Jahre in Europa verbracht hat, spitzt die Ohren und schnappt deutsche Gesprächsfetzen auf. Von einer Insel Anticosti ist die Rede, von einem Herrn namens Belnap und einer Firma Consolidated Paper, von Untersuchungsergebnissen und Erkenntnissen einer offenbar mehrwöchigen Inselexpedition. Seine Neugier ist schnell geweckt. Was hat diese merkwürdige deutsche Delegation bloß

in Kanada zu suchen? Seit beinahe fünf Jahren ist Adolf Hitler in Berlin an der Macht. Vor allem die außenpolitische Aktivität des „Führers“ wird fast überall auf der Welt misstrauisch beäugt. Die meisten Teilnehmer scheinen einander nicht zu kennen – man redet sich mit Nachnamen an. Der Reporter notiert sich einige davon und beginnt zu recherchieren.

William Lyon Mackenzie King ist ein alter Hase im Politgeschäft; Staatsvisiten sind für den fast 63-jährigen kanadischen Ministerpräsidenten Routine. Der bevorstehende Besuch Ende Juni 1937 in Berlin ist dennoch etwas Besonderes für den Chef der Liberal Party. Als Doktorand lebte er im Jahr 1900 mehrere Monate in Berlin, wohnte bei Familie Weber und ihren reizenden Töchtern Susi und Dorothea in der Kaiserin-Augusta-Straße am Tiergarten. Er hat schöne, geradezu sentimentale Erinnerungen an die deutsche Hauptstadt.

Die Gespräche beginnen um halb elf am Dienstagmorgen, 29. Juni. Mackenzie King trifft Hermann Göring in dessen Amtssitz. Der Jagdflieger und Pour-le-Mérite-Träger aus dem legendären Flying-Circus-Geschwader des „Roten Barons“ von Richthofen gilt im Machtgefüge der Nazis nach Hitler als Nummer zwei.

Wie seine Jagdtrophäen und Kunstwerke sammelt Göring, der Kanadas Premier im weißen Sommeranzug empfängt, Titel und Ämter: Reichstagspräsident, designierter Hitler-Nachfolger, Gestapo-Gründer, Luftwaffenchef, Bevollmächtigter des Vierjahresplans der Kriegswirtschaft, Chef des Forschungsamts, eines Geheimdiensts für Auslandsaufklärung. Bei Tee und Gebäck dankt der leidenschaftliche Jäger, der wegen seiner Prunksucht im Volk „Goldfasan“ heißt, erst für das stattliche Geschenk, einen Bison, um dann Deutschlands Wunsch nach Rohstoffen vorzutragen. Beiläufig erkundigt er sich, wie hoch der Anteil der Deutschstämmigen an Kanadas Bevölkerung sei. Rund fünf Prozent, lautet die Antwort, die Göring wohlgefällig entgegennimmt.

Das mehrstündige Gespräch dreht sich um die Ausweitung des bilateralen Handels, um das deutsche Interesse an einer Lockerung der engen Bande Kanadas mit Großbritannien, und es endet mit einer Einladung an Göring, Kanada zu besuchen, die dieser freudig annimmt. Als Mackenzie King sich verabschiedet, um Hitler zu treffen, erfährt er, dass Göring eine Reihe Termine hat platzen lassen, um mehr Zeit für den kanadischen Gast zu haben. Später wird ein Mitarbeiter Görings sagen, der Kauf von Anticosti sei streng vertraulich und ein Lieblingsprojekt von Göring. Dies deutet darauf hin, dass bereits im Sommer die Anticosti-Angelegenheit vorbereitet wird.

Das Gespräch bei Hitler ist auf eine halbe Stunde festgesetzt, am Ende werden es anderthalb. Die beiden Staatsmänner unterhalten sich angeregt über internationale Beziehungen; Hitler lässt sich ausführlich den British Commonwealth of Nations erklären und erkundigt sich nach Kanadas Verhältnis zum großen Nachbarn USA. Nachher schwärmt der kanadische Premierminister von Hitler als „warmherzigen und liebenswürdigen Gastgeber, der uns freundschaftlich verbunden ist“.

Kaum ein halbes Jahr später, am 2. Dezember 1937, titelt die „Montreal Gazette“: „Deutsche verhandeln über den Kauf von Anticosti“. Der Leser erfährt, dass eine 13-köpfige Delegation kürzlich im Land war, um die Insel zu inspizieren. Ein Konsortium deutscher und niederländischer Kaufleute wolle die Insel, die zweimal so groß wie Mallorca ist, für zwölf Millionen Dollar von dem kanadischen Konzern Consolidated Paper kaufen und Arbeitsplätze schaffen. Von bis zu 2500 ist die Rede. In einer strukturschwachen Region ist das kein unwichtiges Argument. Die Delegation habe aus Experten für Forst- und Landwirtschaft und Fischerei bestanden, heißt es in der Meldung.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 91. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 91

No. 91April / Mai 2012

Von Andreas Srenk

Die Kanada-Liebe des Hamburger Autors Andreas Srenk, Jahrgang 1961, begann Mitte der 1980er Jahre als Student in Montreal. Auf seinen Reisen durchs ganze Land ist er auf mehr Bären als Nazis gestoßen.

Mehr Informationen
Vita Die Kanada-Liebe des Hamburger Autors Andreas Srenk, Jahrgang 1961, begann Mitte der 1980er Jahre als Student in Montreal. Auf seinen Reisen durchs ganze Land ist er auf mehr Bären als Nazis gestoßen.
Person Von Andreas Srenk
Vita Die Kanada-Liebe des Hamburger Autors Andreas Srenk, Jahrgang 1961, begann Mitte der 1980er Jahre als Student in Montreal. Auf seinen Reisen durchs ganze Land ist er auf mehr Bären als Nazis gestoßen.
Person Von Andreas Srenk