Der gebeutelte Ozean

Setzt Standards: der neue „WOR“ No. 7 über den Zustand der Meere­

Sprache ist in der Regel ein exzellenter Spiegel der Realität. Und wenn sich eines elf Jahre nach Erscheinen des ersten „World Ocean Review“ (WOR) feststellen lässt, dann dies: Der Ton der Meeresdebatte hat sich verschärft. Wo damals von „Wandel“ gesprochen wurde, dominiert jetzt der Begriff der „Krise“. Von irreparablen Schäden ist die Rede, von Artensterben, der Müllhalde Meer, von kollabierenden Ökosystemen und zerstörten Lebensgrundlagen für Abermillionen Menschen. 

Gleichzeitig aber propagieren Politik, Industrie und Wissenschaft den Ozean als Hoffnungsträger. Küstennationen setzen auf den Wachstumssektor Meereswirtschaft und rechnen mit Milliardengewinnen aus Offshorewindkraft, Aquakultur und der Vermarktung von Wirkstoffen aus dem Meer. Im Pazifik testen Bergbaufirmen Riesenraupen zum Abbau erzreicher Manganknollen, und in den internationalen Klimaverhandlungen wird mit dem Kohlenstoffspeicherpotenzial des sogenannten Blue Carbon gepokert – gemeint sind Mangroven, Seegraswiesen, Salzmarschen und Kelpwälder. 

Der Menschheit müsse es eben nur endlich gelingen, den Ozean nachhaltig zu nutzen und seine Kapazitätsgrenzen zu achten, dann seien Wachstum, Wohlstand und lebenswertes Klima auch künftig möglich, heißt es. Bei der Frage nach dem Wie stellt sich dann heraus, dass radikale Veränderungen erforderlich sind, von denen noch niemand so richtig sagen kann, wer sie anschieben und finanzieren soll.

Der Begriff „Dilemma“, den das US-Wissenschaftsmagazin „Science“ Anfang Juli zum Thema Plastikverschmutzung auf sein Titelblatt druckte, beschreibt den aktuellen Beziehungsstatus zwischen Mensch und Ozean vermutlich am treffendsten. Vorbei sind die Zeiten, in denen das Meer als unerschöpflich galt. Kaum noch jemand leugnet seine fundamentale Rolle für das menschliche Wohlergehen: angefangen bei den mehr als drei Milliarden Menschen, die auf Meeresfisch als Quelle tierischen Eiweißes angewiesen sind, über den globalen Handel, der zu 80 bis 90 Prozent per Schiff abgewickelt wird, bis hin zu den wichtigsten Funktionen des Meeres – seiner erdumspannenden Klimaregulation, seiner überragenden Wärmespeicherung und der Produktion des Lebenselixiers Sauerstoff. Jeden zweiten Atemzug verdanken wir der Fotosynthese winziger Meeresalgen. Der Ozean war, ist und bleibt demzufolge der wichtigste Garant für höheres Leben auf der Erde.

Dennoch nimmt der Mensch ihn immer stärker in den Würgegriff. Der Weltklimarat kommt in seinem neuesten Sachstandsbericht zu dem Schluss, dass die Menschheit durch die Freisetzung von Treibhausgasen Veränderungen in den Meeren angestoßen hat, wie sie im Rückblick auf die vergangenen Jahrtausende einmalig sind. Seit den 1960er-Jahren haben sich die Meere drastisch und bis in immer größere Tiefen erwärmt. Ihre Wassermassen durchmischen sich weniger; ihr Sauerstoffgehalt ist um bis zu drei Prozent gesunken, während die Versauerung zunimmt. Marine Hitzewellen – ein Phänomen, das beim Erscheinen des ersten WOR vielen Menschen noch gar kein Begriff war – treten immer häufiger auf und suchten im vergangenen Jahr 84 Prozent der globalen Meeresoberfläche mindestens einmal heim. Die meisten Fieberattacken werden in den tropischen Gewässern sowie im Arktischen Ozean dokumentiert und führen nicht selten zu lokalen Massensterben. 

Die zunehmende Hitze treibt bewegliche Meeresbewohner in die Flucht. Sie wandern polwärts oder in größere Tiefen, wo die Wassertemperatur noch erträglich ist und genügend Sauerstoff zur Verfügung steht, um den wärmebedingt steigenden Bedarf zu decken. Lebensbedrohlich ist diese Entwicklung vor allem für die kälteliebenden Arten der Polarregionen, denen der Klimawandel keinen Rückzugsort mehr lässt. Ende Juni dieses Jahres sagte der ehemalige Leiter der internationalen Expertengruppe für Eisbären, Dag Vongraven, er gehe davon aus, dass die imposanten Tiere auf Spitzbergen mittlerweile vom Aussterben bedroht sind und in 50 Jahren vermutlich nur noch im hohen Norden Kanadas sowie in wenigen Teilen Grönlands überleben werden. 

Ähnlich prekär sieht die Lage in den artenreichen Tropen aus. „Bei Temperaturen von 40 Grad und mehr kommen Tiere und Pflanzen an ihre evolutiven Grenzen. Das heißt, die Tropen bluten aus, weil Organismen ausweichen und vor Ort keine Reproduktion mehr stattfindet“,  sagt Hans-Otto Pörtner, Meeresbiologe am Alfred-Wegener-Institut und Experte für die Temperaturtoleranz von Organismen. 

Die Auswirkungen sind weitreichend. Laut Weltbank werden Fischer in afrikanischen Ländern wie Ghana, Liberia und der Elfenbeinküste in den kommenden drei Jahrzehnten etwa 30 Prozent weniger Fisch fangen als bisher, bis 2100 werden die Verluste auf 40 Prozent steigen. Pörtner: „Wir wissen anhand von Paläodaten, dass in sehr warmen Phasen der Erdgeschichte ein höheres Leben in den wärmsten Gebieten der Erde nicht mehr möglich war, auch im Meer nicht. Derzeit befinden wir uns erneut auf dem Weg dorthin.“ 

Die globale Klimakrise lässt zwei weitere Meereskrisen etwas aus dem Blickfeld rücken. Auch sie wurden schon im ersten WOR beschrieben: die Ausbeutung mariner Ressourcen und die Verschmutzung der Meere. Durch verbesserte Forschung und aktivere Öffentlichkeitsarbeit hat das Wissen darüber aber enorm zugenommen. Hoffnungsvoll stimmen etwa die Erfolge von Global Fishing Watch. Die Organisation nutzt Funk- und Satellitendaten, um weltweit illegale Fischerei aufzudecken. Dank ihrer Arbeit ist mittlerweile bekannt, dass iranische Fischkutter die Küstengebiete von Jemen und Somalia leerfischen, während chinesische Kalmarfischer die Gewässer Nordkoreas plündern. Würde die Staatengemeinschaft diese Art der Fischereiüberwachung ausbauen und Täter zur Verantwortung ziehen, wäre ein akutes Problem der globalen Meeresnutzung gelöst. 

Erfolgreichen Lösungen räumt der neue WOR bewusst viel Platz ein. Denn sie zeigen, dass im Grunde bekannt ist, wie sich der Ozean ressourcenschonend nutzen und schützen ließe. Das gilt für die Meeresfischerei und Aquakultur ebenso wie für die Themen Schifffahrt, Energie- und Rohstoffgewinnung, Verschmutzung und genetische Ressourcen des Meeres. 

Die gute Nachricht ist: Die Belange des Ozeans stehen heute deutlich höher auf der politischen Agenda als noch vor elf Jahren. Im Rahmen der internationalen Klimaverhandlungen gibt es mittlerweile einen eigenen Ozean- und Klimadialog. Auf der jährlich stattfindenden Our Ocean Conference verpflichten sich staatliche und nicht staatliche Akteure, selbst gewählte Meeresprojekte umzusetzen. Wirkung zeigen zudem Vereinbarungen wie das Stockholmer Übereinkommen, das die Herstellung ausgewählter persistenter organischer Schadstoffe verbietet. Die Konzentration genau dieser Schadstoffe im Meer sinkt mittlerweile nachweislich. Im Gegenzug steigt dafür die Belastung mit Düngemitteln, Medikamenten und Plastikabfällen, letztere nahezu exponentiell. 

Die Krisen des Meeres lassen sich nicht mehr losgelöst von der Situation an Land betrachten. Im Gegenteil. An Land entscheidet der Mensch die Zukunft des Meeres. Gebraucht werden sowohl eine drastische Reduktion der Treibhausgasemissionen als auch neue Formen eines gemeinschaftlichen und transparenten Meeresmanagements. Wie dies gelingen kann, beschreibt der neue WOR ausführlich. Wie vor elf Jahren hofft auch diesmal die Redaktion wieder, dass der WOR „zumindest zu einem kleinen Teil dazu beitragen kann, die Situation [der Meere] zum Guten zu wenden“. 

Ein kostenloses Exemplar des „World Ocean Review 7“ können Sie bestellen oder downloaden unter www.worldoceanreview.com.


„World Ocean Review“ – umfassendes Meereswissen in sieben Bänden

Mehr als 65000 Mal im Monat wird die Website des „World Ocean Review“ (WOR) aufgerufen – von Menschen aus aller Welt, die Fragen zu einem Meeresthema haben. Der WOR liefert kostenlos umfassende Antworten: wissenschaftsbasiert, anschaulich erklärt und bebildert, sowohl in Deutsch als auch in Englisch, weshalb jede neue Ausgabe mittlerweile auf den Malediven oder in Brasilien mit ebenso viel Spannung erwartet wird wie in Deutschland. Erst kürzlich trat eine Fachabteilung der Universität Tokio mit der Bitte an den WOR-Herausgeber maribus heran, die Publikation ins Japanische übersetzen zu dürfen. Qualitativ vergleichbares Material sei schwer zu finden, die im WOR gesammelten Informationen aber von hohem Wert für die eigenen Leser, lobten die Anfragenden.

Der WOR ist sowohl digital als auch als Printausgabe erhältlich. Jeder kann sich die neueste Ausgabe über die Website kostenlos für die eigene Bibliothek bestellen. Ein Blick in die Statistik zeigt: Gebrauch machen davon bisher vor allem Menschen, die sich einen umfassenden und zusammenhängenden Überblick über die diversen Meeresthemen verschaffen wollen und oft in der Position sind, ihr Wissen weitergeben zu können. Dazu gehören Menschen, die sich im Umweltschutz engagieren, Lehrer, Unternehmensangehörige, aber auch Studierende und Schüler.

Sie alle schätzen besonders, dass im WOR nicht nur News und Fakten präsentiert werden, sondern auch die für die Lösungssuche so wichtigen Wirkungszusammenhänge. Für die faktische Genauigkeit garantieren die wissenschaftlichen Partner der WOR-Redaktion. Dazu gehören zum einen das Kieler Netzwerk Future Ocean sowie das International Ocean Institute. Zum anderen steht mit dem Konsortium Deutsche Meeresforschung ein Verbund aus nahezu allen deutschen Meeresforschungsinstituten hinter dem Projekt. An der neuesten Ausgabe, der No. 7, beteiligten sich 36 Wissenschaftler aus Forschungszentren, Universitäten und Bundesanstalten, international renommierte Experten in ihrem Feld. 

Dennoch arbeitet das Autorenteam unabhängig und scheut sich auch nicht vor kontroversen Meinungen. Layout, Bildrecherche und Schlussredaktion bewerkstelligen Profis aus der mare-Redaktion. Der Hintergrund: Der WOR entstand einst auf Initiative von Nikolaus Gelpke, Herausgeber und Chefredakteur von mare. Er gründete für diesen Zweck die gemeinnützige maribus gGmbH, deren einziger Zweck es ist, den WOR zu publizieren. 

Diese Herangehensweise hat sich in den vergangenen elf Jahren als Erfolgskonzept erwiesen. Allein 2020 verschickte maribus rund 12 000 WOR-Printexemplare in alle Welt. Die Zahl der digital heruntergeladenen Inhalte beläuft sich auf ein Vielfaches, auch weil eine intelligente Suchfunktion die Recherche auf der WOR-Website erleichtert und Leser schnell zu den richtigen Kapiteln oder Textpassagen führt. 

Wissen und Bildung legen den Grundstein für positive Veränderungen. In diesem Sinn ist der für jedermann gratis erhältliche WOR ein idealer Ausgangspunkt für alle Meeresenthusiasten und die, die es werden wollen.                         
Sina Löschke

mare No. 149

mare No. 149Dezember 2021/ Januar 2022

Von Sina Löschke

Sina Löschke hat das Medien- und Kommunikationsgeschäft an der Universität Hamburg sowie an der Henri-Nannen-Journalistenschule von der Pike auf gelernt und später auf beiden Seiten der Wissenschaftskommunikation gearbeitet: zuerst zehn Jahre lang als Wissenschaftsredakteurin im GEO-Kindermagazin GEOlino, später als stellvertretende Pressesprecherin des Alfred-Wegener-Institutes, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven. Sie betreibt das Redaktionsbüro Schneehohl. 

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Vita Sina Löschke hat das Medien- und Kommunikationsgeschäft an der Universität Hamburg sowie an der Henri-Nannen-Journalistenschule von der Pike auf gelernt und später auf beiden Seiten der Wissenschaftskommunikation gearbeitet: zuerst zehn Jahre lang als Wissenschaftsredakteurin im GEO-Kindermagazin GEOlino, später als stellvertretende Pressesprecherin des Alfred-Wegener-Institutes, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven. Sie betreibt das Redaktionsbüro Schneehohl. 
Person Von Sina Löschke
Vita Sina Löschke hat das Medien- und Kommunikationsgeschäft an der Universität Hamburg sowie an der Henri-Nannen-Journalistenschule von der Pike auf gelernt und später auf beiden Seiten der Wissenschaftskommunikation gearbeitet: zuerst zehn Jahre lang als Wissenschaftsredakteurin im GEO-Kindermagazin GEOlino, später als stellvertretende Pressesprecherin des Alfred-Wegener-Institutes, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven. Sie betreibt das Redaktionsbüro Schneehohl. 
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