Der Canal grande transalpino

1907 tritt ein Schweizer Ingenieur mit einem gewagten Projekt an die Weltöffentlichkeit: Er will mit einem schiffbaren Kanal über den Splügenpass das Mittelmeer mit der Nordsee verbinden – mithilfe einer ausgeklügelten hydraulischen Idee

Auch hoch oben in den Alpen, wo die Luft dünn ist und die Zivilisation fern, gelten Naturgesetze. Murmeltiere etwa können nicht fliegen, die Sonne geht im Osten auf, und Bergbäche fließen ins Tal hinab. Pietro Caminada aber will das nicht akzeptieren. Warum, so fragt sich der Schweizer Ingenieur, soll Wasser nicht auch bergauf fließen? Zum Beispiel am Splügenpass?

Caminada, im Mai 1862 in Vrin, einem Nest im Kanton Graubünden, geboren, ist überzeugt, dass man die Welt verändern kann. Immerhin hat doch bereits der große Leonardo da Vinci im späten 15. Jahrhundert an Methoden geforscht, um Wasser über Stock und Stein gezielt an jene Orte fließen zu lassen, an denen es für den Anbau von Reis benötigt wurde, wenn nötig auch gegen die Schwerkraft.

Pietro Caminada selbst, einer der erfolgreichsten Ingenieure seiner Zeit, hat noch größere Pläne: Er will Lastschiffe in einem Kanal über die Alpen schwimmen lassen, über den 2113 Meter hohen Splügenpass in Graubünden. Caminada schwebt ein durchgängiger Wasserweg von der Nordsee bis zum Mittelmeer vor – eine viele hundert Kilometer lange Wasserstraße, die von der Hafenstadt Genua über Alessandria, Mailand, Como, Chiavenna, den Splügenpass, den Bodensee bis nach Basel führt und von dort über den Rhein bis in die Nordsee.

Der Splügenpass liegt nur wenige Kilometer von Caminadas Geburtsort entfernt. Doch das ist nicht der Hauptgrund, wieso er den Kanal hier bauen will. Als direkteste Verbindung zwischen der Bodenseeregion und dem Mittelmeer ist der Splügen für den internationalen Handel schon seit Langem von großer Bedeutung. Auch wenn der Aufstieg Mut erfordert. „Alle Bilder von der Größe und Kraft der Natur, das Ozeanische, Titanische, Vulkanische, Stürme, Erdbeben, der Krieg der Elemente, sie vermögen nicht einen angemessenen Eindruck dieses erhabenen Passes wiederzugeben“, notiert der amerikanische Geistliche George Cheever 1846 auf einer Reise durch die Schweiz.

Bereits um das Jahr 1700 tragen Säumer am Splügenpass Handelsgüter wie Getreide, Wein, Salz und Baumwolle übers Gebirge. Dieses Gewerbe macht viele Bewohner des Bergdorfs Splügen reich. Sie errichten stattliche Häuser mit Schiefersteindach, geprägt vom Baustil jenseits des Alpenkamms, nach italienischem Vorbild „Palazzi“ genannt. Doch der Weg über den Pass ist steil und gefährlich, viele Säumer, Pilger, Soldaten verunglücken. Als im Dezember 1800 Hilfstruppen aus Frankreich Napoleon bei seinem Italienfeldzug über den Splügen zur Hilfe eilen wollen, reißen Lawinen unweit der Schlucht der Via Mala, des „Schlechten Weges“, an einem einzigen Tag Hunderte in den Tod.

In den 1820er Jahren wird der Saumpfad verbreitert, und Mitte des 19. Jahrhunderts transportieren Pferdefuhrwerke jedes Jahr 27 000 Tonnen Güter über die Passstraße. Dann jedoch wird am Gotthard, knapp 100 Kilometer weiter westlich, eine Eisenbahnlinie über die Alpen gebaut, und der Splügen verliert an Bedeutung. Die Säumerfamilien verarmen. Politiker überlegen, das Dorf Splügen zu fluten und in einem Stausee zu versenken. Caminada hingegen will die Kraft des Wassers nutzen, um neue Arbeitsplätze in seiner Heimatregion zu schaffen und den Welthandel anzukurbeln.

Als er 1907 mit seinem Kanalprojekt an die Öffentlichkeit tritt, blickt der Ingenieur bereits auf eine eindrucksvolle Karriere zurück. Als junger Mann nach Südamerika ausgewandert, hatte er sich beispielsweise bei der Neugestaltung des Hafenbeckens von Rio de Janeiro einen Namen gemacht. Manche Architekturhistoriker behaupten, Pietro Caminada aus Vrin sei es gewesen, der Rio erst zu einer modernen Großstadt umgebaut habe.


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mare No. 84

No. 84Februar / März 2011

Von Till Hein

Till Hein, Jahrgang 1969, freier Wissenschaftsjournalist, ist in der Schweiz aufgewachsen und lebt in Berlin. Bei seinen Fahrradausflügen durch Brandenburg bewundert er die Seen, Bäche und Flüsse und vermisst die Berge und die Murmeltiere. Von Caminadas Alpenwasserstraßenprojekt hörte er erstmals auf einer Wanderung in Graubünden.

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Vita Till Hein, Jahrgang 1969, freier Wissenschaftsjournalist, ist in der Schweiz aufgewachsen und lebt in Berlin. Bei seinen Fahrradausflügen durch Brandenburg bewundert er die Seen, Bäche und Flüsse und vermisst die Berge und die Murmeltiere. Von Caminadas Alpenwasserstraßenprojekt hörte er erstmals auf einer Wanderung in Graubünden.
Person Von Till Hein
Vita Till Hein, Jahrgang 1969, freier Wissenschaftsjournalist, ist in der Schweiz aufgewachsen und lebt in Berlin. Bei seinen Fahrradausflügen durch Brandenburg bewundert er die Seen, Bäche und Flüsse und vermisst die Berge und die Murmeltiere. Von Caminadas Alpenwasserstraßenprojekt hörte er erstmals auf einer Wanderung in Graubünden.
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