Der Austernambassadeur

Ein Mann und seine Lebensaufgabe, die wilde Ostrea edulis. Im kalten dänischen Limfjord gedeiht sie zur besten Auster der Welt

Heute ist sie eine der mächtigsten Frauen der Welt. Vor acht Jahren war Margrethe Vestager nur die Chefin einer linksliberalen Kleinpartei im Kopenhagener Parlament. Bei einem Lunch mit der Sozialdemokratin Helle Thorning-Schmidt im Restaurant „L’Alsace“ bestellte sie Austern vom Limfjord – und entdeckte in einer eine Perle. Bei Limfjord-Austern ist das ungefähr so selten wie ein Lottogewinn.

Vestager ließ das Perlmutt, klein wie ein Stecknadelkopf, in einen Ring fassen und nahm es zu Recht als gutes Omen: Nach den folgenden Wahlen wurde sie als Superministerin für Wirtschaft und Inneres so mächtig, dass Ministerpräsidentin Thorning-Schmidt sie 2014 gern nach Brüssel ziehen ließ. Dort lehrte sie fortan als Wettbewerbskommissarin Großkonzerne das Fürchten und belegte Google und Apple mit Milliardenbußen.

Am 7. September 2011, kurz nach dem Restaurantbesuch, postete Vestager bei Facebook einen offenbar schnell hingeworfenen Satz: „Das ist der Fischer, der die Auster fing, die die Perle machte, die ich fand.“ Das Foto dazu zeigt sie in ihrem Büro zusammen mit einem Mann mit raspelkurzem Haar.

Auch für den Fischer war die Auster ein gefundenes Fressen. Svend Bonde, 46, hat sich zum Maschinisten, Konstrukteur und Berufstaucher ausgebildet, doch schon seit 25 Jahren fährt er mit seinem Kutter hinaus auf den Limfjord und holt Miesmuscheln und Taschenkrebse vom Grund des seichten Sallingsunds, vor allem aber Austern. „Sie sind meine Lebensaufgabe geworden“, erzählt er in seiner „Østersbar“ (Austernbar) in Glyngøre.

Wir sitzen an der Theke, die Bonde aus Bahnschwellen aus Eichenholz gezimmert hat, und er erzählt: Die erste Lieferung der Saison bringe er den Sternerestaurants in Kopenhagen und der Küche am königlichen Hof persönlich vorbei. Dann brauche er immer jemanden, der ihn nach Hause fährt. Denn die Chefs köpften vor Freude über seine Mitbringsel gerne eine Flasche Champagner. Er erzählt, dass er so lange an die Post geschrieben habe, bis sie tatsächlich eine Briefmarkenserie über Schalentiere herausgab. Er beschwatzte den Braumeister auf der Insel Fur immer wieder, und tatsächlich leerte der schließlich einen Sack Austern in die Maische und braute ein Stout daraus. Bonde sieht sich als den Austernambassadeur vom Limfjord, den Dänemark so dringend brauche.

Zwar ist das Meer nirgends weit; allein am Limfjord gibt es 1000 Kilometer Küstenlinie. Doch die Dänen essen wenig heimischen Fisch und noch weniger Meeresfrüchte. Das Nationalgericht ist Schweinebraten, und vor dem Fernseher isst man gerne flæskesvær, frittierte Schweineschwarten. Das mag daran liegen, dass die Dänen jahrhundertelang mehr Bauern und Händler waren als Feinschmecker. Die Limfjord-Austern gehen fast komplett in den Export, vor allem in die Sternerestaurants im nordspanischen Galicien. Nur eine von 100 wird in Dänemark verspeist. „Das kann doch nicht sein!“, ruft Bonde. „Wir haben die perfekte Rohware direkt vor der Nase und schätzen sie nicht.“

In der Tat ist die Limfjord-Auster etwas ganz Besonderes. 94 Prozent der weltweit verzehrten Weichtiere stammen aus Aquakulturen. Gewöhnlich handelt es sich dabei um Pazifische Austern, die ungeöffnet an eine geballte Faust erinnern. Die Limfjord-Auster dagegen hat eine flache Schale, es handelt sich um die Art Ostrea edulis, die Europäische Auster, die lediglich 0,2 Prozent am weltweiten Verzehr ausmacht – weil sie durch Überfischung fast ausgerottet ist. Der Limfjord ist einer der wenigen Orte, wo die Europäische Auster noch wild lebt. Weiter nördlich kann sie kalte Winter kaum überstehen. Für René Redzepi, Chef im Kopenhagener Restaurant „Noma“, ist die Wassertemperatur auch der Grund, warum die Limfjord-Auster die beste der Welt sei: Je kälter das Wasser, desto langsamer das Wachstum und desto intensiver der Geschmack.

Bonde öffnet einige Exemplare und serviert sie roh auf einem Bett aus Tang. Sie haben Biss, sind ungewöhnlich fleischig, schmecken sanft salzig mit einer Ahnung von nussig – ein Fest. 40 Kronen (5,35 Euro) kostet das Stück. „Das Wunderbare ist: Ich sehe in meiner Bar nur in fröhliche Gesichter“, sagt Bonde. „Wer Austern isst, ist nicht griesgrämig.“


Überbackene Limfjord-Austern

Zutaten (für vier Personen)

24 Limfjord-Austern, Butter, 2 Knoblauchzehen, 3 Zitronen oder 24 Sanddornbeeren, 250 g Mozzarella.

Zubereitung

Die Austern öffnen. Auf jede etwas Butter und gepressten Knoblauch streichen. Entweder mit drei Tropfen Zitrone beträufeln oder eine Sanddornbeere dazugeben. Dann mit Mozzarella bedecken. Die Austern für zehn bis zwölf Minuten bei 200 Grad im Ofen backen oder auf den Grill legen.


Østersbar

Kassehusvej 5, Glyngøre.
Tel. +45 97 73 23 30.
Geöffnet Do und Fr von 11 bis 17 Uhr, Sa von 11 bis 15 Uhr sowie nach telefonischer Absprache.
www.danishshellfish.com/oysterbar

mare No. 137

No. 137Dezember 2019 / Januar 2020

Von Bernd Hauser und Cathrine Ertmann

Bernd Hauser, Jahrgang 1971, ist freier Autor der Agentur Zeitenspiegel. Er lebt in Brüssel.

Fotos: Cathrine Ertmann

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Vita Bernd Hauser, Jahrgang 1971, ist freier Autor der Agentur Zeitenspiegel. Er lebt in Brüssel.

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Vita Bernd Hauser, Jahrgang 1971, ist freier Autor der Agentur Zeitenspiegel. Er lebt in Brüssel.

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