Der Mythos wankt. Langsam, kaum merklich, in seiner großen Vitrine, und er gibt dabei ein leises Ächzen von sich, mit jedem Schritt der Vorbeigehenden. Die Besucher des Museums der Untergrundkämpfer in Santiago de Cuba schenken dem Beben keine Aufmerksamkeit. Es wankt so vieles gerade in Kuba. Die Menschen sind daran gewöhnt, dass die Symbole ihres glorreichen Landes wanken.
Dieses ist das größte. Jedenfalls ein Modell davon. Eine drei Meter lange Miniatur der „Granma“, jener Yacht, mit der Fidel Castro und 81 Getreue 1956 von Mexiko aus eine Expedition begannen, die der Beginn der Revolution war.
Die „Granma“ ist keine Fußnote eines Befreiungskampfs, keine historische Anekdote. Sie ist das höchste Symbol der Kubanischen Revolution, die Säule des Gründungsmythos der sozialistischen Nation, ein Heiligtum.
Hunderte Schulen und Institutionen, Kooperativen, Plätze und Geschäfte tragen ihren Namen, eine Provinz ist nach ihr benannt und die größte Zeitung des Landes, das Zentralorgan der KP. Jedes Kind kennt ihre Geschichte auswendig und nicht wenige auch die Namen der Männer, die auf der „Granma“ nach Kuba kamen.
Es gibt wenige Schiffe, die es zur historischen Allegorie geschafft haben. Die „Mayflower“ vielleicht, das Schiff der Pilgerväter, das zum Gründungsmythos der USA gehört und die Nachkommen der Passagiere adelt, oder das russische Kriegsschiff „Potemkin“, das der Russischen Revolution als tragisch-heroisches Epos Flügel verlieh. Aber kein Schiff wird annähernd so verehrt wie die „Granma“. Sie ist in Kubas Geschichte internalisiert, ja ins Innere der Kubaner selbst verlagert.
In diesen Tagen ist in Kuba der Begriff der transición in aller Munde. Der „Übergang“ in eine offenere Gesellschaft, die Lockerung des Embargos, die größere Wertschätzung des Westens, er ist der alles beherrschende Gegenstand von Debatten in den Wohnzimmern, Sozialvereinen, Veteranenclubs, beim Friseur und bei der Arbeit.
Die Dispute werden jetzt lauter geführt, sagen die Kubaner, die Kritiker der alten Castro-Politik wagen sich aus der Deckung. Oft wird dann von den alten Traditionalisten der Geist der „Granma“ heraufbeschworen. Nur sie gemahne noch mit Stolz an die Ideale der Revolution, die doch nicht dem Mammon geopfert werden dürften.
Am leidenschaftlichsten wird die Revolution in Kubas Süden verteidigt, in der Landschaft, an die die „Granma“ unsanft stieß, im Nationalpark Desembarco del Granma, „Landung der Granma“, am südwestlichen Zipfel der Insel. Die Gedenkstätte ist menschenleer, so sehr wie die üppige Natur des Nationalparks. Besucher kommen selten hierher in die Mangroven, die die sanfte Küstensavanne säumen. Den meisten ist es hier zu heiß.
Bei einem Spaziergang zur Landestelle erzählt eine Führerin* die Geschichte der Überfahrt der „Granma“. Sie holt tief Luft, als sie beginnt, und sie erzählt, als sei sie dabei gewesen, im Präsens, ernst und an manchen Stellen mit dem Feuer einer gelernten Revolutionärin. Zwischendurch schließt sie die Augen.
Fidel Castro bebt vor Inbrunst, als er im Juli 1956 in Mexiko City vor dem Waffenhändler Antonio del Conde steht und von seinen Plänen spricht. Castro lebt hier seit einem Jahr im Exil, nachdem er aus den Folterkellern des kubanischen Diktators Batista entlassen wurde, in die sie ihn nach dem Debakel seines Sturmes auf die Kaserne Moncada in Santiago de Cuba am 26. Juli 1953 geworfen hatten. Moncada sollte der Anfang vom Ende des Menschenfressers werden. Del Conde ist Castros Freund, seit der sich bei ihm nach Waffen erkundigt hat. Den Namen des Besuchers kannte er schon lange. Die Verfassungsklage, die der Rechtsanwalt Castro 1952 im Alleingang gegen Batistas Staatsstreich unternommen hatte, hatte ihn auch in Mexiko berühmt gemacht.
Castro will einen neuen Versuch unternehmen. Diesmal eine Invasion mit einer kleinen, gut gerüsteten Expedition übers Meer. Er denkt dabei an José Martí, den großen Dichter und Nationalhelden im Kampf gegen die spanischen Kolonialherren. Wie dieser will Castro eine revolutionäre Zelle in den Bergen der Sierra Maestra im Süden Kubas errichten, um von dort aus Kuba zu befreien. Nicht mit dem Sammelsurium an alten Schießeisen wie beim Moncada-Sturm. Diesmal hat er Geld für gute Waffen. Del Conde verspricht zu helfen. Auch bei der Suche nach einem Schiff für die Überfahrt.
Del Conde hat von einer Yacht gehört, die zum Verkauf steht, ein 18 Meter langer Kabinenkreuzer aus Holz, Baujahr 1943. Er gehört dem amerikanischen Unternehmerpaar Erikson. Das Boot ist auf den Namen „Granma“ getauft, englisch für „Oma“, Eriksons Großmutter. Ein Hurrikan hat der Yacht zugesetzt, aber sie ist reparabel, vor allem ist sie unauffällig. Castro ist einverstanden. Del Conde kauft das Boot. 20 000 US-Dollar, eine Hälfte sofort.
In den nächsten Monaten versammelt Castro 81 Freunde um sich, die er auf die Expedition mitnehmen will. Es sind fast alles moncadistas, die sich 1953 Castros Bewegung des 26. Juli, kurz: M-26-7, im Kampf gegen Batista angeschlossen hatten. Auch sein jüngerer Bruder Raúl ist dabei, Camilo Cienfuegos, der Volksheld seit den Studentendemonstrationen in Havanna 1955, und der junge argentinische Arzt Ernesto Guevara, genannt Che, der auf langen Motorradreisen durch Südamerikas Elend Marxist geworden war. Auch del Conde will mit. Fidel hält ihn zurück; er werde in Mexiko nützlicher sein.
Kurz nach Mitternacht, am 25. November 1956, läuft die „Granma“ in Santiago de la Peña aus. Drei Tage soll die Fahrt dauern, das Ziel ist hier, die Südwestspitze Kubas. Es ist kalt und regnerisch; Comandante Castro hofft, dass die Küstenwache in ihren Unterkünften bleibt. „Sorge dich nicht, wenn du hörst, dass sie mich ermordet haben. Sie haben mich schon so viele Male ermordet“, sagt Castro zu del Conde. Das Boot ist überladen. 82 compañeros auf einer Yacht, die für zwölf gebaut ist, dazu die Waffen, Proviant und Treibstoffkanister für den Schiffsdiesel.
Als die Sonne aufgeht, liegt die Küste hinter ihnen. Zuversicht kommt auf, immer wieder singen sie La Bayamesa, Kubas Hymne aus dem Befreiungskrieg. Am Mittag wird die See schwerer. Hohe Wellen, ein kräftiger Nordwind; nach wenigen Stunden drängen sich die Männer an der Reling, um sich zu übergeben. Die Bilge läuft voll, die Pumpen streiken, das Wetter wird immer schlechter. Im überfüllten Salon des Bootes hören die Männer über ihren Funk, der nur empfängt und nicht sendet, dass Mexikos Küstenwache alle Ausfahrten untersagt.
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Karl Spurzem, Jahrgang 1959, ist stellvertretender mare-Chefredakteur.
Der Däne Joakim Eskildsen, geboren 1971, lebt in Potsdam. Der vielfach ausgezeichnete Fotograf kennt Kuba von mehreren Reisen. Eskildsen ist Schüler des dänischen Hoffotografen Rigmor Mydtskov und studierte Kunst und Design in Helsinki. Seine Arbeiten wurden in zahlreichen Einzelausstellungen in aller Welt gezeigt und sind in öffentlichen und privaten Sammlungen vertreten.
Vita | Karl Spurzem, Jahrgang 1959, ist stellvertretender mare-Chefredakteur. Der Däne Joakim Eskildsen, geboren 1971, lebt in Potsdam. Der vielfach ausgezeichnete Fotograf kennt Kuba von mehreren Reisen. Eskildsen ist Schüler des dänischen Hoffotografen Rigmor Mydtskov und studierte Kunst und Design in Helsinki. Seine Arbeiten wurden in zahlreichen Einzelausstellungen in aller Welt gezeigt und sind in öffentlichen und privaten Sammlungen vertreten. |
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Person | Von Karl Spurzem und Joakim Eskildsen |
Vita | Karl Spurzem, Jahrgang 1959, ist stellvertretender mare-Chefredakteur. Der Däne Joakim Eskildsen, geboren 1971, lebt in Potsdam. Der vielfach ausgezeichnete Fotograf kennt Kuba von mehreren Reisen. Eskildsen ist Schüler des dänischen Hoffotografen Rigmor Mydtskov und studierte Kunst und Design in Helsinki. Seine Arbeiten wurden in zahlreichen Einzelausstellungen in aller Welt gezeigt und sind in öffentlichen und privaten Sammlungen vertreten. |
Person | Von Karl Spurzem und Joakim Eskildsen |