Das Wüstenmeer

Der französische Geograf François Élie Roudaire hat 1874 einen Plan: Er will große Teile der Sahara fluten und die Wüste in ein künstliches Meer verwandeln

Keine Berge, keine Dünen, kein Sand, dafür getrockneter Schlamm, Sumpf und Salz, wohin das Auge auch blickt. Im April 1864 erreicht François Élie Roudaire eine Landschaft, die er inmitten der Sahara nicht vermutet hatte. Über der grauen Senke, die bis zum Horizont reicht, flimmert die heiße Wüstenluft. Eine Fata Morgana gaukelt eine ferne Oase vor. Aber auf derartige Trugbilder fällt der französische Geograf nicht herein. Stattdessen stellt er seinen Theodolit auf und beginnt mit den Vermessungsarbeiten, mit denen ihn die französische Armee beauftragt hat. Deren Interesse richtet sich vor allem auf die noch weitgehend unbekannten Gebiete im Süden Algeriens und Tunesiens. Die Dritte Republik braucht Platz, den sie verstärkt in Afrika sucht, wo sie sich auf einen kolonialen Wettlauf mit Großbritannien eingelassen hat.

Roudaire kommt gut voran. Seine kleine Expedition ist bestens ausgerüstet, und die Hitze hält sich im Frühjahr noch in Grenzen. Der Schott el Dscherid, der von ihm entdeckte Salzsee, ist bald vermessen und kartiert. Natürlich weiß der Franzose, dass der See den durchziehenden Beduinen bekannt ist. Doch er ist der erste Europäer, der den Schott el Dscherid mit eigenen  Augen gesehen hat. Oder etwa doch nicht?

Roudaire entstammt einer bildungsbürgerlichen Familie und hat eine entsprechende Erziehung genossen. Sein Vater war Direktor des Naturhistorischen Museums von Guéret. Daher kennt der Militärgeograf zahlreiche antike Texte, darunter auch die von Herodot und Diodor. Beide Autoren berichten von einem mysteriösen See irgendwo in südlichen Gefilden der damals bekannten Welt. In den Texten heißt er Tritonsee, da er von einem Fluss namens Triton gespeist wird. Roudaire stellt sich die Frage, ob der Schott el Dscherid nicht das geologische Überbleibsel dieses Sees sein könnte. Ein weiteres Indiz bestärkt ihn in dieser Annahme: Roudaire stellt nämlich fest, dass Teile der Senke bis zu 26 Meter unter dem Meeresspiegel des Mittelmeers liegen.

Der Gedanke lässt den Geografen fortan nicht mehr los. Er verstaut Zelte und Messgeräte und zieht mit seiner kleinen Expedition weiter in Richtung Osten. Dort stößt er auf einen weiteren Salzsee, den Schott el Fedschadsch. Im Westen wiederum liegen der Schott el Gharsa und der Schott Melghir. Zusammen mit kleineren Salzseen bilden sie eine Senke gigantischen Ausmaßes, fast 400 Kilometer lang und bis zu 70 Kilometer breit. Die Fläche beträgt etwa 7700 Quadratkilometer. Im Osten erreicht die Senke fast den Golf von Gabès, eine Bucht an der Ostküste Tunesiens, lange Zeit auch als Kleine Syrte bekannt. Ein rund 200 Kilometer breites und über dem Meeresspiegel liegendes Wüstenstück hindert das Mittelmeer daran, die nördliche Sahara zu fluten.

Roudaire zeichnet Karte auf Karte. Während seiner Arbeit nimmt allmählich eine kühne Vision Konturen an. Wäre es nicht möglich, den von Herodot beschriebenen antiken Zustand wieder­herzustellen? Der Vermessungsoffizier stellt erste Berechnungen an. Beflügelt wird er dabei von einem Projekt, das als Weltsen­sation und größtes Bauvorhaben aller Zeiten angesehen wird. Denn zur selben Zeit, in der Roudaire in der Sahara unterwegs ist, graben sich mehr als 30 000 Arbeiter durch die Meerenge von Sues. Das Gebiet dort ist unbewohnt. Jedes Zelt, jeder Spaten und jede Karaffe Wasser muss aufwendig zur Baustelle transportiert werden. Nicht wenige Zeitgenossen schütteln ihre Köpfe; sie können sich nicht vorstellen, dass schon bald Schiffe auf einem 162 Kilometer langen Kanal durch die ägyptische Wüste fahren sollen.

Doch der Coup gelingt. Innerhalb von nur zehn Jahren, von 1859 bis 1869, schafft es der französische Unternehmer und Diplomat Ferdinand de Lesseps, die lang gehegte Vision in die Realität umzusetzen. Sogar die Skeptiker jubeln ihm jetzt zu, während die Optimisten längst von ganz anderen Eingriffen des Menschen in die Natur und in die Geografie träumen. Endlich, so scheint es, wird die Welt beherrschbar. Der Mensch muss sie nicht mehr länger so hinnehmen, wie er sie vorgefunden hat. Ein neues Zeitalter leuchtet am Horizont.

Nicht anders sieht es Roudaire. Am Schott el Dscherid stehend, schließt er die Augen und wähnt sich in Gedanken am Ufer eines künstlichen Binnenmeers. Schiffe fahren vorbei, andere legen in den Häfen junger und moderner Städte an, um Ladung an Bord zu nehmen. Vor allem Getreide. Denn die Uferregionen des Binnenmeers sind grüne, blühende Landschaften. Dass die Schiffe unter französischer Flagge fahren, steht außer Frage.


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mare No. 115

No. 115April / Mai 2016

Von Bernd Flessner

Es ist nicht die einzige Utopie des technischen Zeitalters, mit der sich Autor Bernd Flessner, geboren 1957, in den vergangenen Jahren beschäftigt hat. Doch jene von François Élie Roudaire findet der Uehlfelder Autor und Zukunftsforscher besonders interessant. Ihm war die Sahara schon immer zu trocken.

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Vita Es ist nicht die einzige Utopie des technischen Zeitalters, mit der sich Autor Bernd Flessner, geboren 1957, in den vergangenen Jahren beschäftigt hat. Doch jene von François Élie Roudaire findet der Uehlfelder Autor und Zukunftsforscher besonders interessant. Ihm war die Sahara schon immer zu trocken.
Person Von Bernd Flessner
Vita Es ist nicht die einzige Utopie des technischen Zeitalters, mit der sich Autor Bernd Flessner, geboren 1957, in den vergangenen Jahren beschäftigt hat. Doch jene von François Élie Roudaire findet der Uehlfelder Autor und Zukunftsforscher besonders interessant. Ihm war die Sahara schon immer zu trocken.
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