Das Wagnis der Erkenntnis

Jahrhundertelang hielt das Meer als Metapher dafür her, Welt­anschauungen zu vermitteln. Heute hat es ausgedient

Moralische Erziehung gründete oft auf Ehrfurcht, Autorität, Überzeugungskraft oder Wissen. Solche Attribute des moralisch Lehrenden waren nützlich, um einem Volk das „richtige“ Denken und Handeln zu vermitteln. Sie treffen auf Götter zu, aber auch auf die Schriften sterblicher Geistlicher, Dichter und Philosophen. Dabei halfen ihnen Naturgewalten: den Göttern als direktes Werkzeug, den Sterblichen als Metapher, Gleichnis und Illustration ihrer Ideen. Diese Erziehungsmethode zieht sich durch die Antike, die Bibel und die Aufklärung. Unter den Naturgewalten spielt das Meer eine ganz besondere Rolle. Es hat Vernichtungskraft wie das Feuer, birgt aber auch Leben, und es trug immer auch zur Gestalt und zum Verständnis epochaler Weltbilder bei. Seine ehrfurchtsvolle, zeitüberdauernde Autorität wurde genutzt, um große ethische Konzepte zu veranschaulichen. Der kreative Mensch ernannte das weite Meer nur zu gern zu seinem Erziehungsgehilfen.

Die für uns wohl bekannteste Lehre, die durch das Meer veranschaulicht wurde, ist die der biblischen Sintflut. Nach dem Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies lebten die

Menschen in Zorn, Eifersucht, Kummer, Hass und Blutvergießen. „Die Erde war verderbt vor Gott und voller Frevel“ – so kündigte Gott Noah die Sintflut zum Untergang aller Menschen und Landtiere an. Noah allerdings durfte sich, seine Familie und einige Tierpaare auf der selbst gebauten Arche retten. Die Sintflut galt als Einbruch chaotischer Wassermassen, die aus dem Himmelsgewölbe und aus dem Boden die Erde fluteten und das Fleisch unter sich begruben. Das Wasserchaos vertilgte alles, vom Wurm über den Menschen bis zum Vogel, ausgenommen waren nur die Meerestiere. Nach dem Ende der Sintflut ging Gott einen Bund mit Noah ein. Er versprach, von nun an seine Schöpfung nicht noch einmal zu vernichten, da er akzeptiere, dass im Menschen das Gute sowie das Böse existiere. Dieser Treuebund sicherte die zweite Schöpfung ab: die Menschen als Nachkommen von Noahs Familie und die Tiere als Nachkommen der geretteten Archetiere.

Durch Gottes Versprechen dient die Bibelgeschichte aber nicht als mögliche, wiederkehrende Bestrafung, falls der Mensch nicht rechtens handelt. Sie illustriert zwar die Macht Gottes und verhilft zur Ehrfurcht vor ihm, vermittelt aber zugleich Gottes Güte und Versöhnung mit dem Menschen. Die Meereskatastrophe erzählt die Rettung des Menschen durch Gottes Liebe und soll so das Vertrauen in ihn stärken; sie bindet die Menschen an ihn und damit an seine Gebote und seine Lehren.

Doch die biblische Sintflut ist keineswegs einzigartig, auch im griechisch-römischen Kulturkreis, zum Beispiel bei dem Dichter Ovid, erscheint sie. Außerdem existieren Sintfluttexte in der -indischen Mythologie, im Altisländischen, bei den australischen Aborigines und im chinesischen Altertum. Es bleibt ungeklärt, warum das Bild eines vernichtenden Meeres in so vielen verschiedenen Kulturkreisen auftaucht. Einige Forscher sprechen von einer Urangst des Menschen, die kulturunabhängig sei: Die unbändige Kraft und Macht des Meeres kann den ihr unterliegenden schwachen Menschen jederzeit vernichten. Daraus konnten Kulturen, wie auch die jüdisch-christliche, die Bestrafung einer falschen Lebensführung vermitteln.

Durch die Aufklärung wurden religiöse Geschichten und die kirchliche Moral zunehmend hinterfragt. Immanuel Kants Philosophie beeinflusst bis heute das aufgeklärte moralische Bewusstsein. Er widmete sich den großen ethischen Fragen der Menschheit: Was kann ich hoffen? Wie soll ich mich verhalten? In seinen Schriften wie der „Kritik der reinen Vernunft“ und „Zum ewigen Frieden“ verordnete er die Religion, Gott und dessen Funktion neu. Gott sei ein Postulat der praktischen Vernunft, seine Existenz könne der Mensch empirisch nicht erfahren. Da im Menschen aber Gut und Böse wohnten, brauche er eine über-geordnete Instanz, die ihm helfe, dem erstrebenswerten Ziel der Geschichte, ein moralisch guter Zustand der Welt, näher zu kommen.

Diese Instanz ist ein Glaube, aber keine Offenbarungsreligion, sondern eine Vernunftreligion. Das heißt, dass nicht die Kirche und die Religion bestimmt, was moralisch richtig ist, sondern die Vernunft des Menschen. Nicht aus Religion heraus, sondern aus den aufgeklärten Menschen entstehe ein ethisches Gemeinwesen, was wiederum im zweiten Schritt die Gestalt einer Religion und einer Kirche annehmen kann. Um diese Anschauung zu vermitteln, verwendet Kant ein eingängiges Bild: das des Ozeans. So wie auch die zweite Schöpfungsgeschichte auf dem Meer beruht, zeichnet sich der fundamentale Umschwung der Aufklärung bei Kant durch die Metapher des Meeres ab. In der „Kritik der reinen Vernunft“ unterscheidet er zwischen der Insel, dem Land des reinen Verstands und der Wahrheit, sowie dem weiten, stürmischen Ozean, dem Sitz des Scheines, der leeren Hoffnung und der Illusion.


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mare No. 129

August / September 2018

Von Larissa Kikol

Larissa Kikol ist promovierte Kunstwissenschaftlerin, Autorin und Kunstkritikerin. Sie schreibt unter anderem auch für die Zeit und das Kunstmagazin Art. Kikol forscht zur Naturrezeption in der Kultur- und Kunstgeschichte, außerdem beschäftigt sie sich mit Bildern des Meeres in Literatur, Werbung, Kunst und Medien. Zu ihrem Bedauern wuchs sie selbst nicht am Meer auf, „aber wenigstens in der Nähe eines Wellenbads“.

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Vita Larissa Kikol ist promovierte Kunstwissenschaftlerin, Autorin und Kunstkritikerin. Sie schreibt unter anderem auch für die Zeit und das Kunstmagazin Art. Kikol forscht zur Naturrezeption in der Kultur- und Kunstgeschichte, außerdem beschäftigt sie sich mit Bildern des Meeres in Literatur, Werbung, Kunst und Medien. Zu ihrem Bedauern wuchs sie selbst nicht am Meer auf, „aber wenigstens in der Nähe eines Wellenbads“.
Person Von Larissa Kikol
Vita Larissa Kikol ist promovierte Kunstwissenschaftlerin, Autorin und Kunstkritikerin. Sie schreibt unter anderem auch für die Zeit und das Kunstmagazin Art. Kikol forscht zur Naturrezeption in der Kultur- und Kunstgeschichte, außerdem beschäftigt sie sich mit Bildern des Meeres in Literatur, Werbung, Kunst und Medien. Zu ihrem Bedauern wuchs sie selbst nicht am Meer auf, „aber wenigstens in der Nähe eines Wellenbads“.
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