Das Unterdeck. Hier passiert es

Eine Kreuzfahrt der besonderen Art: 1600 Schwule und eine Handvoll Frauen lagen vor Mexiko

Atlantis-Deck

„Helft euch, Jungs, wenn ihr zusammenarbeitet, geht es schneller.“ Die Stimme scherbelt aus dem Lautsprecher, Kellner hasten durch den fast leeren Speiseraum, räumen das dreckige Geschirr weg und decken die Tische für die zweite Schicht. Rosa Tischtücher werden ausgebreitet, glattgestrichen; routinierte Hände, die auch bei unruhiger See gewandt ihre Arbeit verrichten. „…und vergeßt nicht, wir haben 648 Männer und zwei Frauen im Saal!“, tönt die blecherne Stimme. Die Kellner lachen, blinzeln sich zu, die Stimmung ist entspannt. Keine gewöhnliche Kreuzfahrt, weder für die Crew noch für die Gäste.

In der hintersten Ecke sitzen zwei Männer und rühren in ihren Kaffeetassen. Die Lautsprecherstimme hat sie irritiert, Chuong und Luke stehen auf, gehen durch den Raum, das Gleichgewicht zu halten fällt nicht ganz leicht. Die See ist bewegt heute abend. Nicht nur, daß es ihre erste Kreuzfahrt ist. Diese Reise ist für die beiden eine ganz spezielle: Es ist ihr Honeymoon. Seit Jahren leben sie in einer Kleinstadt in North Carolina zusammen, der 34jährige vietnamesische Computerspezialist und sein ehemaliger Dozent für Informatik. Beide wirken leicht verschüchtert, die ersten Tage haben sie verschämt gelächelt, wenn sie angesprochen wurden, seit dem vierten Tag jedoch nehmen sie an den Gesprächen teil, lachen mit der lauten Tischgesellschaft. Es war anfangs keine Selbstverständlichkeit für die beiden, Arm in Arm an Deck zu stehen. North Carolina ist nicht New York.

Für Chuong – „ich bin eine Minorität (schwul) in der Minorität (katholischer Vietnamese) in der Minorität (Vietnamese in den USA)“ – ein ganz neues Lebensgefühl: Niemals könnte er seinen Eltern erzählen, wo er seinen Urlaub verbracht hat. Was ihn nicht davon abhält, noch auf dem Schiff die nächste Kreuzfahrt für sich und Luke zu buchen: 10 Tage Karibik im Februar ’99 – die Tour übrigens, auf der letzten Sommer die Gäste beim Landgang von der empörten katholischen Bevölkerung mit Steinen beworfen wurden…

Vor der verschlossenen Tür drängeln sich die Wartenden. Männer, größtenteils Amerikaner, vorwiegend weiß, Alter zwischen Anfang Zwanzig und Ende Siebzig. Einziger allen gemeinsamer Nenner: Sie sind schwul.

Heute ist der letzte Tag der Cruise. Gestartet ist die „Jubilée“ mit 1600 Passagieren an Bord im Port of Los Angeles. Nicht, daß dies eine einmalige Sache wäre. Touren dieser Art werden seit ein paar Jahren durchgeführt, mal fährt ein großer Kreuzer durch die Karibik, mal ein Segelschiff übers Ägäische Meer.

Das ganze Schiff wurde gechartert, inklusive Besatzung. Die Crew reagiert unterschiedlich auf die Gäste. Der Kapitän geht souverän mit der ungewöhnlichen Situation um. Die italienischen Maschinisten jedoch sind verständnislos und unzufrieden. Es fehlen ihnen die Frauen. Denn nur etwa dreißig Frauen sind dabei: vielleicht ein Dutzend Lesben, zwei, drei Mütter von schwulen Söhnen, eine Handvoll „bester Freundinnen“ und – Stargast Gloria Gaynor, Ikone der Schwulenbewegung und Grande Dame der schwarzen Musik. Für die Italiener also wenig Möglichkeiten zum Flirt.

Der erste Eindruck beim Boarding: eine Menschenmenge von nicht überschaubarer Größe, kaum wirklich auffallende Personen – Männer halt. Nur einer sticht tatsächlich heraus, ein großer und ausnehmend gutaussehender Schwarzer, der sich betont abseits hält und sich mit den Worten „Hi, I’m Andrew. I am shy.“ vorstellen wird.

Die Tour führt an der mexikanischen Küste entlang, aber eigentlich ist die Route völlig egal: Sonne, Ruhe, Sex, Spaß und – vor allem – neun Tage ein Leben außerhalb des gewohnten heterosexuellen Umfelds. Neun Tage in der Mehrheit, neun Tage und acht Nächte Normalität, selbstverständliches Sein, irritierte Blicke höchstens vom Personal.

Friedlich übers Wasser zu tuckern tut gut und ist schön, sicherlich. An der Reeling zu stehen und gedankenverloren auf den Horizont zu starren, das macht man immer wieder gerne. Es ist aber nicht allein die Sehnsucht nach der Ferne, welche die Leute diese Reise machen läßt. Das Meer dient hier etwas anderem: Es wird zur Trennfläche zwischen Land und Schiff, es läßt einen Alltag, in dem man permanent mit Problemen konfrontiert wird, die nicht die eigenen sind, für kurze Zeit in die Distanz rücken.

Annemarie fühlt sich durchaus wohl unter all den Männern. Sie ist Schweizerin, eigentlich. Die 67jährige Frau lebt seit Jahrzehnten in den USA. Auf diese Kreuzfahrt kam sie mit ihrer besten Freundin Mag. Seit die beiden verwitwet sind, reisen sie oft zusammen. Hierher begleiten sie ihren schwulen Freund. Als der ihnen sagte, daß diese Cruise aber homosexuell sei, meinte Annemarie nur: „Na und?“ Die Frauen lieben das Leben an Bord. „Noch nie habe ich so viele Komplimente von hübschen jungen Männern erhalten wie in diesen Tagen.“ Die beiden sind beliebt, sie sind witzig, klug, kultiviert. Und Annemaries Lebensgeschichte ist ungewöhnlich: Als junge Frau kam sie in die USA, sollte fremde Kinder betreuen. Lange tat sie das nicht, sie studierte und machte eine steile Karriere. Jahrelang war sie die Leitende Vermittlerin zwischen deutscher Bundeswehr und US-Regierung. „Ich kenne das schon, einzige Frau unter Männern zu sein“, meint sie augenzwinkernd. „Nur daß es damals Ehefrauen gab, die mich gehaßt haben.“ Sie heiratete einen ungarischen Baron, 25 Jahre lebten sie zusammen. „Kinder? Nein. Ich wollte reisen und arbeiten!“ Und auf Reisen geht sie, vorurteilsfrei und offen, Dame von Welt, die sie ist.

U-Deck

„The U-Deck is the place where it happens“ – eine Information von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit. Amador ist ein routinierter Lebemann und weiß genau, wovon er spricht. Das U-Deck ist eines der fünf Kabinendecks, nicht das teuerste, nicht das billigste. Aber das, wo es passiert.

Lange, niedrige Flure, beiger Teppichboden, Tür reiht sich an Tür. An manchen hängen mit Filzstift bekritzelte weiße Plastikschilder, Männer preisen darauf ihre körperlichen Vorzüge an (Wieviel Zentimeter sind 8 Inches?). Immer mal wieder steht eine Kabinentür einladend offen. Blickt man dann hinein, so liegt meist ein mehr oder weniger attraktiver Jüngling auf dem Bett, blättert gelangweilt in einer Zeitschrift oder guckt TV. Das gesamte Fernsehprogramm ist auf die homosexuelle Klientel abgestimmt. Neue schwule und lesbische Filme stehen genauso auf dem Programm wie die Filmklassiker. Alle genießen das: endlich Fernsehen ohne heterosexuelle Liebesdramen, kein alltäglicher Werbeterror mit glücklichen Kleinfamilien.

Musik dringt aus den Kabinen, lautes Gelächter, manchmal Gekreisch, eine Tür schnappt ins Schloß. „So ist das im Leben, man klopft an 70 Türen und bei der 71. wird man hineingebeten.“ Amador grinst vieldeutig. Er ist Amerikaner mexikanischer Abstammung, ein Mann Ende Fünfzig mit auffallend gutem Körperbau und scharf gezeichneten Gesichtszügen. Tagsüber liegt er am Pool, nachts sieht man ihn in der Disco – wenn er nicht gerade an fremde Türen klopft, oft genug mit Erfolg. Dreimal war er verheiratet, zwei erwachsene Kinder aus der ersten Ehe hat er. Amador spricht mit entwaffnender Verständnislosigkeit darüber, daß seine Frauen sein schwules Leben nicht ertragen konnten. „But I loved them.“ Den Frauen war das offensichtlich nicht genug. Ihm auch nicht. Also weiter, zur nächsten Tür.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 9. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 9

No. 9August / September 1998

Eine Reportage von Zora del Buono und Elke Selzle

Das amerikanische Reiseunternehmen RSVP veranstaltet jedes Jahr mehrere Schiffsreisen dieser Art. Die Kreuzfahrten in der Karibik, vor Südamerika, Mexiko und Alaska können beispielsweise über MILU-Reisen, Motzstraße 23, 10777 Berlin, Tel. 030 / 217 64 88, gebucht werden.

Zora del Buono, Jahrgang 1962, ist Kulturredakteurin von mare. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

Elke Selzle, Jahrgang 1961, arbeitet als Modefotografin u.a. für Vogue, Cosmopolitan und Brigitte

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Vita Das amerikanische Reiseunternehmen RSVP veranstaltet jedes Jahr mehrere Schiffsreisen dieser Art. Die Kreuzfahrten in der Karibik, vor Südamerika, Mexiko und Alaska können beispielsweise über MILU-Reisen, Motzstraße 23, 10777 Berlin, Tel. 030 / 217 64 88, gebucht werden.

Zora del Buono, Jahrgang 1962, ist Kulturredakteurin von mare. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

Elke Selzle, Jahrgang 1961, arbeitet als Modefotografin u.a. für Vogue, Cosmopolitan und Brigitte
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Vita Das amerikanische Reiseunternehmen RSVP veranstaltet jedes Jahr mehrere Schiffsreisen dieser Art. Die Kreuzfahrten in der Karibik, vor Südamerika, Mexiko und Alaska können beispielsweise über MILU-Reisen, Motzstraße 23, 10777 Berlin, Tel. 030 / 217 64 88, gebucht werden.

Zora del Buono, Jahrgang 1962, ist Kulturredakteurin von mare. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

Elke Selzle, Jahrgang 1961, arbeitet als Modefotografin u.a. für Vogue, Cosmopolitan und Brigitte
Person Eine Reportage von Zora del Buono und Elke Selzle