Das Todesdreieck

An Siziliens Südküste leiden Tausende Menschen unter den ­Umweltfreveln ungezügelter petrochemischer Industrieanlagen

Lu mari è amaru, das Meer ist bitter, sagt eines der vielen Sprichwörter, mit dem auf Sizilien der Schrecken des Meers beschworen wird. Was erstaunt, angesichts eines Meers, das mal anmutet wie ein türkisfarbenes Juwel, mal wie ein in Brand gesetzter Horizont, mal wie goldgesprenkeltes Silber. Die Sizilianer aber trauen der Schönheit nicht und wünschen sich das Meer weg. Kein leichtes Unterfangen bei 1150 Kilometer Küste. Man versuche sich der möglichst vollständigen Illusion hinzugeben, dass es das Meer nicht gäbe und Sizilien keine Insel sei, schrieb der sizilianische Schriftsteller Leonardo Sciascia einst. Während Äcker Sicherheit verhießen, sei das Meer für Sizilianer der Inbegriff der Fatalität. Schließlich kam alles Schlechte vom Meer, Piraten, Eroberer, Feinde. Und am Ende auch das Gift. 

Gelblich-braune Schaumkronen tanzen auf einem reißenden Strom, der ins Meer geleitet wird. Auf einem Schild steht „Ethylen-Anlage“ und „Kennung Abfluss Meerwasser. ETI“. In der nahen Petrochemieanlage wird Ethylen fabriziert, ein Baustein zur Herstellung von Lacken, Lösungs- und Pflanzenschutzmitteln oder Kunststoffen. Ein Mann steht in einem Boot und versucht, mit einem Wasserstrahl den Schaum daran zu hindern, über eine Sperre ins Meer zu fließen. Der Schaum sei ganz normal, wenn warmes Wasser auf kaltes Wasser treffe, sagt er. Normal ist hier an der Ostküste Siziliens jedoch relativ, in der Petrochemieanlage von Augusta-Priolo, einst die größte Europas. Mit 57 Hektar ist sie Italiens größter Industriekomplex und umfasst die Gemeinden von Augus­ta, Melilli und Priolo. Man nennt die Gegend auch: Todesdreieck. Hinter Palmen, honigfarbenen Barockkirchen und königsblauem Meer verbirgt sich ein Abgrund: Ein Drittel aller Tode sind hier auf Krebs zurückzuführen, jeder Zweite stirbt, bevor er das Rentenalter erreicht, Kinder kommen blind und mit gespaltener Wirbelsäule zur Welt, und bis heute gibt es kein Geburtenregister für Fehlbildungen. 

Man nennt es „industrialisiertes Küstengebiet im Osten Siziliens“, tatsächlich ist es ein Vorhof zur Hölle. Gebaut auf den Resten der griechischen Kolonie auf Sizilien, in einem Landstrich, der extrem erdbebengefährdet ist (das letzte fand 1990 statt), müsste das ganze Industriegebiet eigentlich saniert werden, weil das Geschäft seit den 1980ern nur noch schleppend verläuft. 1990 wurde es zum „umweltgefährdeten Gebiet“ erklärt, weil Böden und Grundwasser verseucht sind. Aber passiert ist seither nichts. Stattdessen heißt es hier immer noch: Entweder sterben wir am Hunger oder am Krebs.

„Von der Arbeit muss man leben, nicht sterben“, sagt Don Palmiro Prisutto, der Pfarrer von Augusta. Er sitzt im Neonlicht seines Büros in der Barockkirche von Augusta. „Wenn ich zehn Tote beerdige, sind davon acht an Krebs gestorben. Und das Schlimme ist, dass die Toten immer jünger werden.“ Weil die Stadtverwaltung sich weigerte, den Krebstoten einen Platz zu weihen, hat er in seiner Kirche einen „Platz der Märtyrer der Krebstoten“ eingerichtet, mit Namen, Alter und Krebsart eines jeden Verstorbenen. Er hat alle italienischen Präsidenten der letzten Jahre eingeladen, diesen Toten die Ehre zu erweisen – gekommen ist niemand. Von seiner Terrasse kann der Pfarrer auf die Reede von Augusta blicken, dort lagern 18 Millionen Kubikmeter Giftschlamm, darunter 500 Tonnen Quecksilber. 750 Millionen Euro werden allein für die Sanierung des Hafenbeckens veranschlagt, die Firmen sollten sich an den Kosten beteiligen, geschehen ist nichts. Im Abendlicht liegt das Hafenbecken da wie ein Silbertablett – wegen der Pandemie ungenutzte Kreuzfahrtschiffe sind hier geparkt, daneben die Schiffe der italienischen Marine und der Nato. Die „Augusta Bay“ ist ein Ableger der nahen US-Basis Sigonella. 

Fremdherrschaft zieht sich wie ein roter Faden durch die sizilianische Geschichte. Was einst Araber und Normannen, spanische Vizekönige und Bourbonen waren, sind später norditalienische Industrielle, die hier Unternehmen ansiedelten, die ihnen nirgendwo anders genehmigt worden wären. „So wurde Sizilien die erste petrochemische Industriemacht im Mittelmeerraum. Nur 15 000 Arbeiter bei einer Bevölkerung von fünf Millionen. Ökologisch ein Verbrechen. Politisch ein Bluff. Historisch gesehen eine Schweinerei“, schrieb der sizilianische Journalist Giuseppe Fava 1983. Ein Jahr später wurde er ermordet. Von der Mafia – die stets enge Bande zur Unternehmerschaft pflegte.

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mare No. 153

mare No. 153August / September 2022

Von Cay Rademacher

Eigentlich ist Autorin Petra Reski schwer zu beeindrucken, was Umweltverschmutzung betrifft. Sie ist im Ruhrgebiet aufgewachsen und lebt seit 30 Jahren in Venedig, einer Stadt, neben der die ökologische Zeitbombe der Petrochemieanlage von Marghera tickt. Und dennoch hat sie der ­Einblick in dieses vergiftete Sizilien geschockt. 


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Vita Eigentlich ist Autorin Petra Reski schwer zu beeindrucken, was Umweltverschmutzung betrifft. Sie ist im Ruhrgebiet aufgewachsen und lebt seit 30 Jahren in Venedig, einer Stadt, neben der die ökologische Zeitbombe der Petrochemieanlage von Marghera tickt. Und dennoch hat sie der ­Einblick in dieses vergiftete Sizilien geschockt. 


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