Das schwimmende Klassenzimmer

Tauchen, jagen, singen: Aus der Schule der Wale

Das Leben ist voller Tücken, so auch im Meer. Wenn sich ein Schwertwal mit knurrendem Magen in Küstennähe auf Futtersuche begibt, dann locken ihn besonders junge Robben, die im flachen Wasser planschen. Ihre Tollpatschigkeit erhöht seine Chance auf einen leichten Beutezug. Aber je weiter sich der Wal ins Flachwasser vorwagt, desto mehr läuft er Gefahr, zu stranden. Da hilft nur Augenmaß - und viel Erfahrung. Diese Erfahrung erwirbt er in seiner Jugend, nach jahrelangem Training mit seiner Mutter.

Wie eine Walkuh als Lehrmeisterin auftritt, hat der französische Zoologe Christophe Guinet vom Nationalen Zentrum für wissenschaftliche Forschung in Villiers en Bois auf Video festgehalten. Er und seine Mitarbeiter beobachteten vor einer kleinen Insel im Indischen Ozean, wie ein junger Orca mit seiner Mutter ein Robbenbaby erlegte. Nach einem kräftigen Schlag der Schwanzflosse schnellte der Jungwal Richtung Beute - die Mutter half noch mit einem Schupps nach. Als er die Robbe geschnappt hatte, schwamm die Walkuh herbei und schob ihn wieder an, damit er ins tiefere Wasser zurückkehrte.

Über mehrere Jahre lang haben die französischen Forscher dieses Kalb und andere Waljunge beobachtet, wie sie beinahe strandeten und sich, mit dem Bauch schon auf Grund, ins tiefe Wasser zurückkämpften. Ihre Mütter oder andere weibliche Verwandte verfolgten aufmerksam das Geschehen und eilten zur Hilfe, wenn der Nachwuchs sich nicht selbst befreien konnte. Umgekehrt sahen die Forscher auch, wie die Jungtiere ihre Mütter beobachteten, wenn sie in Küstennähe Robbenjunge fingen. „Kälber imitieren nicht bloß ihre Mutter", erklärt Guinet, „sie werden von ihnen aktiv unterrichtet." Vor Guinet hatte bereits ein argentinisches Forscherteam dieses Verhalten bei Schwertwalen dokumentiert. Zum Lehrplan von Walen gehören nicht nur Ernährung, Jagdhandwerk, Geografie, sondern - je nach Art - auch Kommunikation, Gesang und Sozialkunde. „Lernen und Tradition bestimmen ihr Leben weit mehr als das genetische Erbe", erklärt John Ford vom Vancouver Aquarium Marine Science Centre, der seit mehr als 30 Jahren das Verhalten von Schwertwalen studiert.

Die Schwertwale vor der Westküste Kanadas und der USA sind ein besonders interessantes Beispiel dafür, welche unterschiedlichen Sitten und Gebräuche innerhalb derselben Art gepflegt werden. Die Schwertwale teilen sich in zwei Populationen: „Sesshafte", die dauerhaft dort leben, und „Nomaden", die während ihrer saisonbedingten Wanderungen das Gebiet regelmäßig passieren. Beide Populationen begegnen sich, aber sie vermischen sich nicht. Zu unterschiedlich ist das gruppenspezifische Brauchtum, an das die Jungtiere von klein auf an gewöhnt werden.

Die Sesshaften leben in stabilen Herden von rund 20 Tieren: zwei bis drei Weibchen und ihre Nachkommen. Sie verständigen sich mit einem großen Repertoire von Quietsch- und Pfeiflauten, die in jeder Herde anders sind. Trotz regelmäßiger Begegnungen zwischen den Herden, bleibt jede bei ihrem eigenen Dialekt, und zwar über Jahrzehnte, wie Ford zeigen konnte. Die sesshaften Wale ernähren sich von Fisch, den sie durch Echo-Ortung - mit Klicklauten - aufspüren. Die Nomaden dagegen machen Jagd auf Robben, manchmal auch auf Delfine und Seelöwen. Sie pirschen sich leise und ohne Klicks an ihre Beute heran, um sich nicht zu verraten. Sie ziehen in kleinen Trupps von drei bis sechs Tieren umher, deren Zusammensetzung jedoch wechselt. Sie kommunizieren mit nur wenigen Quietsch- und Pfeiflauten in einem Dialekt, der bei den herumwandernden Herden gleich ist.


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mare No. 26

No. 26Juni / Juli 2001

Von Monika Rößiger

Monika Rößiger war mare-Wissenschaftsredakteurin. In Heft 25 beschäftigte sie sich mit der Frage, ob Fische an BSE erkranken können

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Vita Monika Rößiger war mare-Wissenschaftsredakteurin. In Heft 25 beschäftigte sie sich mit der Frage, ob Fische an BSE erkranken können
Person Von Monika Rößiger
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