Das Schiff der Träume

Die Mythisierung der „Titanic“ begann gleich nach ihrem Unter­gang vor 100 Jahren. Die Gründe hierfür liegen tief in unserem Seelenleben verborgen

Ein Mythos dient der Kanalisierung der ANGST. In immerwährenden Wiederholungen in unterschiedlichsten Bearbeitungen können so die Menschen ihre Ängste bewältigen, vor Ungeheuern und Drachen, vor Inzest und Eifersucht oder vor der Urgewalt der Natur, die sich nirgends majestätischer ausdrückt als in der Anziehungskraft und dem gleichzeitigen Schrecken des Meeres. Voraussetzung für einen Mythos sind, dem Philosophen Hans Blumenberg folgend, wahre Geschichten von hochgradiger Beständigkeit über die engen Grenzen des jeweiligen konkreten historischen Moments hinweg. Die Toten der Eigernordwand gehören zu einem der kollektiven Mythen über die Gefahren des Gebirges, die Toten der „Titanic“ stehen für die ewige Furcht vor der Unberechenbarkeit der See. Beide gemeinsam setzen das menschliche Dasein in Bezug zur Unerbittlichkeit und Größe der Natur und der Angst und der gleichzeitigen Lust, sich so weit vorzuwagen, dass buchstäblich kein rettender Hafen mehr in Sicht ist. Medien, seien es Heldengesänge, Inschriften, Filme oder Zeitschriften, sind die Träger solcher Mythen, in ihnen wird bearbeitet und weitergegeben, was einst Wirklichkeit war.

Der Untergang der „Titanic“ war für die Beteiligten eine Tragödie. Doch die mediale Übersetzung der Katastrophe in einen Mythos begann bereits wenige Wochen nachdem das Prunkschiff die Erdoberfläche verlassen hatte. Zu exemplarisch war das

Geschehen, was sich in dieser „night to remember“ zugetragen hatte, so singulär und dramatisch, dass es ein Dichter nicht schöner hätte erfinden können. Sicher, es hat andere große Untergänge gegeben, aber nie zuvor und nie danach versank ein Schiff so gleichnishaft. Die „Wilhelm Gustloff“, die „Lusitania“, in jüngerer Zeit die „Estonia“, sie alle blieben im kollektiven Gedächtnis als große Schiffsunglücke; den Stoff für einen Mythos dagegen lieferte nur die Geschichte der „Titanic“.

Es begann schon mit dem Namen. Die Titanen waren in der griechischen Mythologie ein Göttergeschlecht, das im Kampf gegen den Olympier Zeus grausam unterlag, ein Name also, der das Schicksal geradezu vorausnahm, und ein unheimliches Versäumnis, dass offenbar niemand bei der Reederei diese Bedeutung gesehen hatte oder sehen wollte. Im Gegenteil: Das Werbematerial pries die „Titanic“ als ein Technikwunder, als größtes und luxuriösestes Schiff aller Zeiten, das wegen wasserdichter Schotten unsinkbar sei. Die Erbauer waren sich sicher, dass „Gott selbst dieses Schiff nicht versenken könnte“, und verzichteten auf ausreichend Rettungsboote aus ästhetischen Gründen. Und schließlich: Es war nicht irgendeine Fahrt, auf der dieses Symbol des Fortschritts mit einem Eisberg kollidierte, sondern die Jungfernfahrt. Und auf der „Titanic“ reisten nicht irgendwelche Passagiere, sondern das „Who is who?“ seiner Zeit. Von Benjamin Guggenheim bis John Jacob Astor, sie alle waren gleich im Angesicht der übermächtigen Natur. Und vielleicht doch nicht ganz gleich, denn zum sinnbildlichen Club der Millionäre gesellte sich noch der Klassengegensatz, verkörpert durch die tief im Schiffsinnern untergebrachten Dritte-Klasse-Passagiere, die einen weiteren Weg bis zu den Rettungsbooten zu bewältigen hatten und deren Verluste um ein Vielfaches größer waren als die der ersten Klasse.

Das „Titanic“-Desaster verbindet die gotteslästernde Anmaßung des Menschen mit der Geschichte einer dekadenten Gesellschaft derart perfekt, dass es unheimlich anmutet, wie prophetisch dies 14 Jahre zuvor als Fiktion zu Papier gebracht worden war. 1898 hatte der Amerikaner Morgan Robertson in seinem Roman „Futility“ (Sinnlosigkeit) einen Transatlantikdampfer namens „Titan“ mit einem Eisberg kollidieren und samt Tausenden Passagieren sinken lassen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch die Geschehnisse von 1912 ihre Reise ins Mythische antreten sollten.

Die Bearbeitungen ließen nicht lange auf sich warten. Die „Titanic“ war kaum zwei Monate gesunken, da erlebte sie bereits ihre erste Auferstehung. Noch 1912 kam die deutsche Verfilmung „In Nacht und Eis. Der Untergang der ,Titanic‘“ in die Kinos. Ein Pressetext umschrieb, was interessant an diesem Unglück sei: „,Titanic‘ – welche Hoffnungen und Erwartungen haben sich an dieses größte Schiff der Welt geknüpft! Mit ungeheurem Luxus, unter riesigem Kostenaufwand erbaut, wurde an diesem Schiff alles getan, was nach menschlichem Ermessen getan werden konnte, um es gegen die Gefahren des Meeres zu schützen. ,Titanic‘ untergehen? – Unmöglich! So dachten die genialen Erbauer des Schiffes. ,Titanic‘ untergehen? Unmöglich! So dachten die Passagiere aller Klassen.“


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mare No. 91

No. 91April / Mai 2012

Von Alexander Kohlmann

Alexander Kohlmann, geboren 1978, verfolgte als Sechsjähriger gebannt die Entdeckung des „Titanic“-Wrackes in der Tagesschau. Seitdem ließ ihn die Geschichte dieser Katastrophe nicht mehr los. Zuletzt in mare No. 88 schrieb der in Hamburg lebende Medienwissenschaftler über das „Kreuzen im Theatermeer“.

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Vita Alexander Kohlmann, geboren 1978, verfolgte als Sechsjähriger gebannt die Entdeckung des „Titanic“-Wrackes in der Tagesschau. Seitdem ließ ihn die Geschichte dieser Katastrophe nicht mehr los. Zuletzt in mare No. 88 schrieb der in Hamburg lebende Medienwissenschaftler über das „Kreuzen im Theatermeer“.
Person Von Alexander Kohlmann
Vita Alexander Kohlmann, geboren 1978, verfolgte als Sechsjähriger gebannt die Entdeckung des „Titanic“-Wrackes in der Tagesschau. Seitdem ließ ihn die Geschichte dieser Katastrophe nicht mehr los. Zuletzt in mare No. 88 schrieb der in Hamburg lebende Medienwissenschaftler über das „Kreuzen im Theatermeer“.
Person Von Alexander Kohlmann