Das Rätsel von Raza

Auf der einen Seite der Insel herrscht Flut, gegenüber ist Ebbe. Kann auf den Philippinen sein, was nicht sein darf?

Raza Island ist eine winzige Insel, 30 Bootsminuten von Surigao del Norte, der Provinzhauptstadt im Nordosten der philippinischen Insel Mindanao, entfernt. Der zwei mal einen Kilometer große Fleck ist lediglich auf Seekarten präzise verzeichnet. Indes: Raza Island (auch Rasa Island) hat diese nachlässige Behandlung nicht verdient. Schmückt es sich doch mit einem Phänomen, das die Wissenschaftler rätseln lässt.

Segler und Fischer staunen, die lokalen Behörden preisen die touristische Attraktion, jederzeit zu besichtigen: Ebbe und Flut treten auf Raza Island gleichzeitig auf. Würde man hier einen Baum erklettern, böte sich also folgendes Schauspiel: Während auf der östlichen Seite die Menschen im Watt nach Muscheln suchen, macht das Hochwasser auf der gegenüberliegenden westlichen Seite ein derartiges Unterfangen unmöglich. Doch haben die Sammler ihre Arbeit im Osten beendet, marschieren sie schnurstracks gen Westen, um am dortigen Strand mit der Arbeit fortzufahren. Dann nämlich herrscht hier Ebbe, während im Osten die Flut die Muschelbänke überströmt.

Unglaublich, unmöglich? Auch unerklärlich? Wilfried Zahel, Professor am Hamburger Institut für theoretische Ozeanographie, versucht es trotzdem. „Vor Raza Island wirken sich sowohl die Gezeitenverhältnisse des Pazifiks als auch die des Südchinesischen Meeres aus“, sagt er.

Man weiß, dass die Flut in Surigao del Norte etwa sechs Stunden später eintritt als auf der Pazifikseite der Philippinen. Zu diesem Zeitpunkt herrscht am Pazifik schon wieder Niedrigwasser. „Die so genannten direkten Gezeiten werden in den offenen Ozeanen wie dem Pazifik erzeugt. Davon unterscheiden wir die Mitschwinggezeiten, wie sie beispielsweise im Südchinesischen Meer herrschen. So wie Ebbe und Flut in der Nordsee nur als Folge der Wasserbewegungen im Atlantik entstehen, folgt der Wasserstand im Südchinesischen Meer dem Geschehen im Pazifik mit Verzögerung.“

So dauert es eben fast sechs Stunden, bis die Flutwelle im Pazifik durch das Südchinesische Meer bis nach Surigao del Norte geschwappt ist. Damit sich auf den entgegengesetzten Seiten einer kleinen Insel wie Raza Island gleichzeitig unterschiedlich hohe Wasserpegel einstellen können, muss jedoch, sagt Zahel, eine Art Barriere in Form eines Meeresrückens vorhanden sein. Dafür sprechen die sehr niedrigen Wassertiefen rund um die Insel. Über diese Schwelle können sich die unterschiedlich hohen Pegelstände nur langsam ausgleichen.

Ein ähnliches Phänomen, wenn auch im viel größeren Maßstab, ist von Neuseeland bekannt. Die Flutwelle des Pazifiks läuft direkt auf die Ostseite der Kiwi-Heimat zu und umrundet dann als fortschreitende Welle die beiden Hauptinseln. Durch die zeitversetzten Tiden kommt es zu starken Pegelunterschieden auf der Ost- und Westseite. Nur in der Cook Strait, dem natürlichen Kanal zwischen der Nord- und der Südinsel, kann ein Ausgleich zwischen Ebbe und Flut stattfinden, was zu heftigen Strömungen führt. Die Strudel rund um Raza Island stützen die Vermutung, dass hier ähnliche Einflüsse wirken, wenngleich in viel geringerem Ausmaß. Die Wasser um das Inselchen jedenfalls geraten ordentlich in Wallung.

Doch bislang ist die Anomalie des Inselchens nicht wissenschaftlich erforscht, genaue Messungen fehlen noch. So hat denn Ekkehard Mittelstaedt vom Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie auch eine andere Theorie parat. Er glaubt nicht, dass die seltsamen Erscheinungen von Raza Island eine Auswirkung der Gezeiten sind. Zu gering sei der sechsstündlich wechselnde Tidenhub in dieser Region. Stattdessen bieten er und seine Kollegen andere Modelle an. So könnten starke Winde das Hochwasser auf der einen Inselseite verstärken, auf der anderen Seite abschwächen. Möglicherweise versetzen die regionalen Windverhältnisse das Wasser in den umgebenden Seebecken auch in Schwingungsbewegungen. Wie in einer Badewanne, in der man ruckartig vor- und zurückrutscht: Vorne sitzt der Badende auf dem Trockenen, hinten schwappt das Wasser über.

Den Fischern und Muschelsammlern aber bleibt das merkwürdige Geschwappe vor ihrer Insel egal, nur die lokale Tourismusbehörde organisiert neuerdings Bootstouren zu den verrückten Stränden von Raza Island. Zu einem Gezeitenmysterium, dessen endgültige Erklärung mithin noch aussteht.

mare No. 35

No. 35Dezember 2002 / Januar 2003

Von Helmut Broeg

Helmut Broeg, geboren 1966, hat nicht nur Biologie studiert, sondern interessiert sich auch für technische und medizinische Themen, kurzum für alles was den Mensch und seine Umgebung vereint. Nach seiner Ausbildung zum Fachzeitschriften-Redakteur arbeitete er zunächst als Redakteur für die Zeitschrift tauchen und seit 2000 als freier Wissenschafts-Journalist u.a. für GEO, Financial Times Deutschland und Bild der Wissenschaft.

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Vita Helmut Broeg, geboren 1966, hat nicht nur Biologie studiert, sondern interessiert sich auch für technische und medizinische Themen, kurzum für alles was den Mensch und seine Umgebung vereint. Nach seiner Ausbildung zum Fachzeitschriften-Redakteur arbeitete er zunächst als Redakteur für die Zeitschrift tauchen und seit 2000 als freier Wissenschafts-Journalist u.a. für GEO, Financial Times Deutschland und Bild der Wissenschaft.
Person Von Helmut Broeg
Vita Helmut Broeg, geboren 1966, hat nicht nur Biologie studiert, sondern interessiert sich auch für technische und medizinische Themen, kurzum für alles was den Mensch und seine Umgebung vereint. Nach seiner Ausbildung zum Fachzeitschriften-Redakteur arbeitete er zunächst als Redakteur für die Zeitschrift tauchen und seit 2000 als freier Wissenschafts-Journalist u.a. für GEO, Financial Times Deutschland und Bild der Wissenschaft.
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