Das Meer der Widersprüche

Unser Bild vom Mittelmeer ist geschönt. Zu viele Maler und Dichter feiern die Idylle und lassen uns vergessen, dass der Mediterran ein unbarmherziger Ort sein kann

Rasen, toben. Der Mediterran, das Gebiet des Mittelmeers, ist ein heftiger Raum. Nicht nur auf dem Wasser, was vor und nach Odysseus unzählige Schiffer erfahren haben. Die Sonne über den nordafrikanischen Küsten, an der Levante, von der Sahara gar nicht zu sprechen, ist erbarmungslos. Das Klima, das in milderen Regionen die Olive, die Feige, die Traube erlaubt und eine Menge immergrüner Bäume, Küstenwälder und Vorgebirge mit Steineiche, Pinie, Zypresse, schließt zugleich das meiste von dem aus, was weiter nördlich oder östlich gedeiht.Die Dichter lieben die warmen Junitage, den milden September, weniger die alles verödende Hitze des Hochsommers, den Wintersturm. Das Mittelmeer mag manchmal so lieblich sein wie bei den französischen Malern, Dufy und Matisse, Nordafrika so geheimnisvoll wie bei Macke und Klee. Aber Paul Valérys luxe, calme et volupté ist nur die eine Seite der Medaille. Der Süden ist so heftig wie bei van Gogh. De Chirico hat das Licht seiner Welt unerbittlich gesehen. Die Gegensätze des vermeintlichen Idylls sind schroff. Es ist anzunehmen, dass sie sich in Zukunft verstärken.

Im Hitzesommer 2007 brannte halb Griechenland. Unvergesslich, tief beängstigend die Luftaufnahmen des Peloponnes samt Athen, Zakynthos, Kephallenia, mithin der Hälfte des Staates: ein Fächer aus Rauch von 400, 500 Kilometer Ausdehnung. Es gibt niemanden mehr in Europa, den das nicht betrifft. Epidauros, Olympia, Symbole der klassischen Welt eingeschlossen, Athen unter einem apokalyptischen roten Himmel. Der Mut und die Machtlosigkeit der Helfer, der Zynismus der Urheber der Katastrophe: Brandstifter und politische Korruption. Die Katastrophe war erwartbar gewesen, und es brannte nicht allein in Griechenland. Rasendes Feuer, zuvor knirschende Trockenheit. Dann toben Stürme, Italien ist überschwemmt. Venedig unter Wasser, einmal mehr. Wilde Gegensätze. „Die Ägäis, das mythische Meer, ist voller Unberechenbarkeit“, schrieb Christiane Schlötzer in ihrem Bericht. „Heftige Winde, wie sie jetzt die Feuer anfachen, haben schon im alten Griechenland eine kriegsentscheidende Rolle gespielt.“

Das Mittelmeer ist nicht nur ein Meer, und stellenweise sogar ein außergewöhnlich tiefes. Es ist auch ein Glacis, ein Aufmarsch- und Schlachtfeld. Die Seeschlacht bei Lepanto, 1571, schien einst die feindliche Auseinandersetzung mit dem Islam beendet zu haben und machte tatsächlich für Jahrhunderte ein nicht immer freundschaftliches, aber jedenfalls unkriegerisches Zusammenleben am Mittelmeer möglich, etwas, wofür die Franzosen (in anderem Zusammenhang) einmal den Terminus cohabitation erfunden hatten.

Dieser Frieden ist heute zunichte gemacht, aber nicht durch die Organisation eines einzelnen Eiferers und Terrorkriegsherrn, sondern durch die Verstärkung, den der schon lange schwelende Terrorismus – erinnern wir uns eigentlich noch an Zerka? – durch die amerikanische Reaktion auf 9/11, den Einmarsch im Irak, erhalten hat. Wir leben, und noch wenn sie längst abgetreten sein wird, mit den Folgen der desaströsen Politik der Bush-Administration, ihrem katastrophalen Konzept des präventiven Angriffs, ihrer Teilung der Welt in Gefolgsleute und sogenannte Schurkenstaaten. Ausgerechnet jene große Nation, die als einzige je die Atombombe eingesetzt hat und die, gemeinsam mit der Sowjetunion, uns alle während der langen Jahre des Kalten Krieges mit ihren atomaren Drohungen in Atem, in Bedrückung und Angst gehalten hat, ausgerechnet dieser Staat argumentiert nun mit den atomaren Waffen der anderen, um Vorwände zu finden für seine globale Einmischungspolitik, eine Hegemonialpolitik, wie sie längst überwunden schien.

Jahrhunderte nach Lepanto ist das Mittelmeer wieder zu einem See geworden, an dem man sich gegenübersteht. Das soll uns Europäer freilich nicht daran hindern, unsere gemeinsame kulturelle Vergangenheit, unser Sosein, das im mediterranen Raum geworden und gewachsen ist, als einen Teil unserer Identität zu begreifen. Es kann kein Selbstverständnis von Europa geben, das ohne die Vorstellung des mit den anderen gemeinsam bewohnten Raumes am Mittelmeer auskommen könnte. Doch der Mediterran ist eine Region, in der es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht still geworden ist. Und nicht nur durch die Gründung des Staates Israel, umgeben von arabischem Gebiet, am 14. Mai 1948, der Geburt einer Dauerkrise, deutlicher: eines nunmehr 60-jährigen Krieges.

Blicken wir nach Algerien. Schon 1945 begannen dort die ersten Unruhen. 1954 eröffnete die FLN, die algerische Befreiungsbewegung, den Kampf um die Unabhängigkeit, die härteste Auseinandersetzung zwischen einem europäischen Staat und einem afrikanischen. Am Ende des Algerienkriegs, nach siebeneinhalb Jahren, als de Gaulle am 18. März 1962 in Evian endlich Algeriens Recht auf Selbstbestimmung anerkannte, da waren an die 18 000 französische Soldaten, darunter viele Fremdenlegionäre, tot. Die FLN schätzte ihre Verluste auf 300 000. Die Gesamtzahl getöteter Muslime wurde später mit 1,5 Millionen angegeben. Nicht zu vergessen der 17. Oktober 1961, als in Paris etwa 30 000 Algerier auf die Straße gingen. Die französische Polizei nahm 14 000 fest, Polizei und Militär töteten fast 200 Menschen und warfen ihre Leichen zum Teil in die Seine.


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mare No. 65

No. 65Dezember 2007 / Januar 2008

Von Dieter Bachmann und Juan Valbuena

Der 1940 in Basel geborene Reporter und Schriftsteller Dieter Bachmann war von 1988 bis 1998 Chefredakteur der Zeitschrift „du“. 2008 erscheint im marebuchverlag sein Essayband Die Vorzüge der Halbinsel. Auf der Suche nach Italien.

Der Fotograf Juan Valbuena, geboren 1973 in Madrid und dort zu Hause, arbeitet seit 1999 an seinem Projekt „The White Border“ über das Mittelmeer.

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Vita Der 1940 in Basel geborene Reporter und Schriftsteller Dieter Bachmann war von 1988 bis 1998 Chefredakteur der Zeitschrift „du“. 2008 erscheint im marebuchverlag sein Essayband Die Vorzüge der Halbinsel. Auf der Suche nach Italien.

Der Fotograf Juan Valbuena, geboren 1973 in Madrid und dort zu Hause, arbeitet seit 1999 an seinem Projekt „The White Border“ über das Mittelmeer.
Person Von Dieter Bachmann und Juan Valbuena
Vita Der 1940 in Basel geborene Reporter und Schriftsteller Dieter Bachmann war von 1988 bis 1998 Chefredakteur der Zeitschrift „du“. 2008 erscheint im marebuchverlag sein Essayband Die Vorzüge der Halbinsel. Auf der Suche nach Italien.

Der Fotograf Juan Valbuena, geboren 1973 in Madrid und dort zu Hause, arbeitet seit 1999 an seinem Projekt „The White Border“ über das Mittelmeer.
Person Von Dieter Bachmann und Juan Valbuena