Das Mädchen am Strand

1913, als die Farbfotografie noch in ihren Kinderschuhen steckt, experimentiert ein Amateur mit der neuen Technik. Am Strand von Dorset gelingen ihm Bilder von seiner Muse, die heute erstaunen

Es muss ein wunderschöner Tag gewesen sein, ein Tag am Meer. Der Himmel blau, keine Wolke in Sicht. Es ist warm, aber nicht zu heiß, wie die Kleidung der Dargestellten vermuten lässt. Ein Picknickkorb ist ausgepackt. Gleich wird es, so stellen wir uns vor, Tee und Sandwiches geben. Eine Art „Déjeuner sur l’herbe“, auf Kies statt Gras. Aber der wärmt und schmiegt sich an. Man scheint sich wohlzufühlen. Das Rauschen der See, das Säuseln des Windes, das Kreischen der Möwen wird man sich hinzudenken müssen. Die Fotografie ist nun einmal ein stummes Medium. Immerhin farbig ist sie mittlerweile. Und genau das ist es, was den Fotografen reizt.

Noch sind die Belichtungszeiten bei farbigen Bildern lang, was erklärt, warum die Beteiligten zu Boden blicken. Wer ins Objektiv schaut, riskiert, wenn er blinzelt, unscharfe Augen. Aber der Fotograf hat das im Griff. Er wählt den Ausschnitt, bestimmt die Perspektive, nimmt – wohl bewusst – den Kamerakoffer mit ins Bild und auch noch Klippen im Hintergrund. Es ist ein schöner, ein besonderer Ort. Wir befinden uns in Lulworth Cove, einer malerischen Bucht im Südwesten Englands. Inzwischen ist die zerklüftete Juraküste in der Grafschaft Dorset ein Hotspot des Tourismus und Teil des Unesco-Weltnaturerbes.

Aber noch schreiben wir 1913. In Frankreich spricht man von der Belle Époque, in England vom Edwardianischen Zeitalter – ein Kapitel der britischen Geschichte, das gefühlt bis 1914 dauern sollte und wie die Belle Époque bis heute für eine nicht nur schöne, aber doch wenigstens friedliche, irgendwie gute alte Zeit steht. Wer damals in Lulworth Cove fotografierte, musste jedenfalls kaum damit rechnen, dass ihm jemand durchs Bild lief. Oder neidvoll auf die ausgepackte Vesper schaute. Man war unter sich.

Zum Wesen der Fotografie gehört, dass man die Hauptperson nicht sieht: den Fotografen. In unserem Fall heißt er Mervyn O’Gorman, eigentlich Mervyn Joseph Pius Gorman – das Präfix O’ kam erst später dazu, als Reminiszenz an irische Vorfahren, die Mitte des 18. Jahrhunderts nach England eingewandert waren. Eingegangen in die Geschichte ist Mervyn O’Gorman als Ingenieur und Pionier der britischen Luftfahrt. 1871 geboren, war er bis 1916 Superintendent der königlichen Flugwerft in Farnborough, Grafschaft Hampshire, danach beratend tätig. Ein vielseitig interessierter Techniker, der sich nicht zuletzt mit Fragen rund um das noch junge Gebiet der Elektrizität beschäftigte. Vor allem scheint er sich für alles interessiert zu haben, was mit maschineller Fortbewegung zu tun hatte, also Autos, Motorsport, Verkehr. Er war Mitglied im Automobile Club of Great Britain and Ireland, schrieb eine Motorkolumne für die „Times“, ein viel beachtetes Buch mit dem Titel „O’Gorman’s Motoring Pocket Book“ und soll maßgeblich am Highway Code mitgearbeitet haben, also dem, was wir als Straßenverkehrsordnung bezeichnen würden.

Geschildert wird O’Gorman als Gentleman mit dandyhaftem Einschlag. Wozu auch gehörte, dass man nach Feierabend nicht die Hände hinter dem Kopf verschränkte, sondern allen möglichen Beschäftigungen – sprechen wir nicht von Hobbys – nachging. Es waren ambitionierte, mit Leidenschaft und nicht geringem Geldeinsatz unternommene Vorhaben, die hier gepflegt wurden. In O’Gormans Fall wäre an seine Aktivität im Bereich der Zeichnung, des Linolschnitts, der Lackmalerei zu erinnern. Auch einen Gedichtband, „Verses Gloomy and Gay“, hat er 1933 herausgegeben. Vor allem auf dem Feld der noch jungen Farbfotografie hat Mervyn O’Gorman in jüngerer Zeit wiederentdeckte Spuren hinterlassen. Auch in seiner Freizeit scheint er folglich die Rolle eines Pioniers verfolgt zu haben. Wobei die erhaltenen Farbfotografien aus seiner Hand nicht nur technisches Geschick und ein Gefühl für das Ausdrucksmittel Farbe bezeugen, sondern auch einen sicheren, an der Kunst der Präraffaeliten, jener Künstlergruppe aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, der die Strenge und Klarheit der vorbarocken Maler als Vorbild diente, geschulten Blick.


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mare No. 123

No. 123August / September 2017

Von Hans-Michael Koetzle

Hans-Michael Koetzle, Jahrgang 1953, lebt als freier Schriftsteller und Kurator in München. Bis 10. September 2017 ist seine bereits in Hamburg und Berlin gezeigte Ausstellung „100 Jahre Leica Fotografie“ in Madrid zu sehen.

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Vita Hans-Michael Koetzle, Jahrgang 1953, lebt als freier Schriftsteller und Kurator in München. Bis 10. September 2017 ist seine bereits in Hamburg und Berlin gezeigte Ausstellung „100 Jahre Leica Fotografie“ in Madrid zu sehen.
Person Von Hans-Michael Koetzle
Vita Hans-Michael Koetzle, Jahrgang 1953, lebt als freier Schriftsteller und Kurator in München. Bis 10. September 2017 ist seine bereits in Hamburg und Berlin gezeigte Ausstellung „100 Jahre Leica Fotografie“ in Madrid zu sehen.
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