Das Haus über dem Meer

Leben mit Meeresblick – ein ambivalentes Glück

Durch die Türen streicht der Atem der Ferne, durch die Fenster flutet apollinisches Licht. Bis an den Horizont wellt sich dein Garten. Inseln schwimmen durch den Blick. Raumtrunken krallst du dich an die Brüstung des Balkons. Das Diesseits verschaukelt dich, ins Zeitlose kippelt deine Gegenwart.

Hier leben, sagst du. Am Ende der Welt. Alles hinter dir lassen, leer werden, sagst du, loslassen, sagst du, die Energien des Meeres auf dich wirken lassen, die Sonnenuntergänge, den Mond, sagst du, die Bilder der Sterne. Der Flügelhauch der Ewigkeit auf deiner Haut. Deine Sehnsüchte auf die Leinwand malen, die Himmel und Meer gespannt haben. Sagst du.

Es ist der Ort, wo der Grund ins Meer fällt, der Wind den Bäumen schräge Mützen aufsetzt, das Gras versalzt und Aasvögel irrendes Vieh in die Tiefe hetzen. Der Ort, wo der Landvermesser Linien aufs Blatt schwindelt, der Jäger sich bekreuzigt, die Rute den Wassersucher an der Nase herumführt, wo der Richter fürs Urteil die Münze wirft und der Postbote seine Tasche ausschüttelt. Grenzland, auf dem kein Einheimischer baut, nur hier und dort in einem fremdgewordenen Haus ein Fremder seine Wochen fristet. Wo nur ein letzter dünner Mast dich mit dem Hinterland verdrahtet und Abschiede so einfach sind.

Du kommst, und es überschwemmen dich Rausch und Übermut. Dir schwankt der Boden unter den tanzenden Füßen. Es reißt dich hin. Du setzt dich auf deinen Stein und schaust aufs Meer wie jeden Abend. Doch dieser Abend ist anders, du erschrickst: Das Meer hat kein Echo. Was immer du hinausschreist, hinauswürgst, hinauslachst – das Meer schluckt es. Unbesehen und mit unendlicher Gleichgültigkeit. Du wartest, dass sich endlich etwas rettend durchs leere Bild schiebt, das weiße Dreieck eines Seglers, die Lichter ferner Frachter, ein Wetterleuchten, ein unerwarteter Besucher. Oder dass irgendein anderes banales Glück dich erlöst. Sehnsucht höhlt dich aus.

Das Haus über dem Meer taugt nicht für die Selbstheilung städtischen Leids. Der Melancholiker flieht in den Schlaf. Der Schwärmer schraubt sich in den Wahnsinn, der Verzweifelte stürzt sich vom Felsen.

Das Haus über dem Meer ist die Schneide der Waage zwischen Wasser und Land. Der Raum zwischen dir und dem gestaltlos verschwimmenden Meer, das Gewicht der Leere droht dich hinüberzuheben. Leg Gewicht in die landseitige Schale. Richte Blicke und Hände auf den Vordergrund. Sorg, dass Werkzeug im Haus ist, Näh- und Strickwerk und Geräte für den Garten, kümmere dich um Wasser, schaffe Vorrat und Feuerung an. Arbeite dir das Meer von der Seele, um es dir zu erhalten.

Der Sog des Raumes schwindet, wenn du dich dem Wasser näherst. So durchmisst du den Raum, den die Leere füllt. Was von hoher Warte verschwommen unbegreifbar, undurchschaubar verspiegelt war, bekommt Zeichnung, nimmt Gestalt an, wird durchscheinend, einsehbar und fasslich. Befahre es, geh fischen, durchtauche seine Gründe, durchstreife seine Strände.

Eine kleine Bucht, verborgen unter der schroffen, verwitterten Nordseite der Insel. Eine Nische im Fels, die das Meer aus dem Gestein herausgetrieben hat, siebenhundert Fuß unter dem Haus, umwölbt mich wie eine Muschelschale, zieht einen Schattenvorhang und wickelt den Wind ein. Sie hält mir den Gneis und den Glimmer vom Leib, die wie Kandis aus dem Steilhang brechen und in die Bucht stürzen. Meine Nische empfängt das Knirschen und Grollen der Steine, wenn die Dünung sie mahlt und der Sturm sie aufs Ufer hochschiebt. Bei Windstille gewahrt sie das Wimmern der Wracks aus der Tiefe. Hier, am Spülsaum der befestigten Welt, wo die Wellen ausatmen und das Meer seinen Hunger auf Land stillt.


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mare No. 4

No. 4Oktober / November 1997

Ein Essay von von Uwe Wandrey

Dr. Uwe Wandrey ist gelernter Schiffbauingenieur und lebt heute als Buchautor und Reisejournalist in Hamburg und auf der griechischen Insel Paros. In mare No. 2 veröffentlichte er einen Essay unter dem Titel „Menschen, Meere, Metamorphosen“, in mare No. 3 eine Analyse der Entstehung von Meereswellen: „Boten eines fernen Windes“.

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Vita Dr. Uwe Wandrey ist gelernter Schiffbauingenieur und lebt heute als Buchautor und Reisejournalist in Hamburg und auf der griechischen Insel Paros. In mare No. 2 veröffentlichte er einen Essay unter dem Titel „Menschen, Meere, Metamorphosen“, in mare No. 3 eine Analyse der Entstehung von Meereswellen: „Boten eines fernen Windes“.
Person Ein Essay von von Uwe Wandrey
Vita Dr. Uwe Wandrey ist gelernter Schiffbauingenieur und lebt heute als Buchautor und Reisejournalist in Hamburg und auf der griechischen Insel Paros. In mare No. 2 veröffentlichte er einen Essay unter dem Titel „Menschen, Meere, Metamorphosen“, in mare No. 3 eine Analyse der Entstehung von Meereswellen: „Boten eines fernen Windes“.
Person Ein Essay von von Uwe Wandrey