Das Fenster zur Kunst

Matisse steckt als junger Maler in einer existenziellen Krise, als er zufällig in das Fischerdorf Collioure an der französisch-spanischen Grenze gerät. Er bleibt einen Sommer an der Mittelmeerküste, dann findet er in seinem Atelier das Motiv

Robert Motherwell, der große abstrakte Expressionist, hat die Geschichte oft erzählt: Im Herbst 1935, da ist er Kunststudent in San Francisco, gerät er mit seiner Clique auf eine Cocktailparty in einer eleganten Villa im nahen Palo Alto. Künstler, Galeristen, Sammler schieben sich disputierend durch die Salons, an deren Wänden die Bilder zu sehen sind, die ihr Besitzer kurz zuvor aus Europa mitgebracht hat. Sie gehören Michael Stein, dem großen Bruder von Gertrude und Leo Stein, Erstere Schriftstellerin, Letzterer Kunstkritiker, alle drei Mäzene der Postimpressionisten. Motherwell schlendert an den Gemälden entlang, da trifft es ihn wie ein Schlag: ein Fensterbild (Seite 99), von Matisse im Sommer 1905 in Collioure gemalt. „Er ging wie ein Pfeil durch mich hindurch. Von diesem Moment an wusste ich genau, was ich zu malen hatte.“

Frühjahr 1949, New York. Mark Rothko, erfolgreich mit surrealistischen und „multiformen“ Gemälden, aber innerlich getrieben von der Suche nach seiner malerischen Sprache, geht wie schon seit Tagen am Morgen ins Museum of Modern Art in der 53. Straße. Das MoMA hat kürzlich mehrere Matisse angekauft, darunter ein Fensterbild aus Collioure und das „Rote Atelier“. Wie Magnete ziehen ihn die beiden Bilder an. Stunden um Stunden sitzt er vor ihnen. Bis er gefunden hat, wonach er sucht. Er geht ins Atelier und malt in einer neuen Art, die er nie mehr aufgibt. 1954, im Jahr des Todes seines Vorbilds, erschafft er die berühmte „Homage to Matisse“, eine Hommage zugleich an Licht und Hitze des Mittelmeers. 2005 wird es für 22 Millionen Dollar versteigert, Weltrekord.

Richard Diebenkorn ist ein arrivierter Künstler in Berkeley, er gilt als führender abstrakter Expressionist an der Westküste der USA, geehrt mit Professuren und großzügigen Stipendien. 1966 zieht er nach Santa Monica, ins Viertel Ocean Park, das Meer immer im Blick; er hat einen Lehrauftrag an der Universität von Kalifornien Los Angeles, kurz UCLA. Zusammen mit seiner Frau besucht er im Museum der UCLA eine Matisse-Retrospektive. Sie zeigt zwei Gemälde zum ersten Mal in den USA: „Türfenster in Collioure“ (Seite 97) und „Ansicht von Notre-Dame“. Zwei Wochen danach beginnt Diebenkorn mit seinem ersten „Ocean Park“-Bild. Es ist anders als alles, was er je zuvor gemalt hat und das erste einer Serie von 135 Gemälden in den folgenden 18 Jahren. Sie machen ihn zu einem der größten Maler des 20. Jahrhunderts.

Drei große Künstler der abstrakten Moderne, drei von vielen, die sich auf Henri Matisse berufen. Es ist erstaunlich, dass Matisse über Jahrzehnte hinweg, auch lange nach seinem Tod, Epigonen fand, die in seinen Arbeiten etwas fanden, das sie jeweils zu etwas völlig Neuem führte. Womöglich stehen sie auch damit in der Nachfolge ihres Vorbilds; Matisse war selbst an manche schmerzhafte ideelle Häutung gewöhnt, und jede von ihnen brachte Neues, Ungekanntes hervor.

Matisse ist, sieht man von den ersten Jahren als Maler ab, als er gemeinsam mit seinem Malerfreund Albert Marquet im Akkord Dekore ans Grand Palais pinselte, die meiste Zeit seines Künstlerlebens von Lob überhäuft worden. Besonders Kollegen hielten ihn für überragend; in Berlin und Wien kursierte das spöttisch-huldvolle Wort vom „Matissismus“; aber auch von dort kamen sie zu ihm, um seine Bilder zu studieren oder sich Rat einzuholen. Picasso, dem Eigenlob leichter fiel, sagte über Matisse: „Er ist der Größte.“

Was hatten die Fensterbilder von Collioure an sich, dass sie, vor allem unter den Abstrakten in den USA, so entfesselnd wirkten?


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mare No. 106

No. 106Oktober / November 2014

Von Karl Spurzem

Karl Spurzem, geboren 1959 im Rheinland, studierte Kunstgeschichte, Romanistik und Städtebau. Nach Stationen bei der Berliner Tageszeitung Die Welt, einer Hamburger Musikzeitschrift und als freier Journalist wurde er im Sommer 2001 Chef vom Dienst bei mare, im Frühjahr 2008 stellvertretender Chefredakteur und Textchef. Seither lernt der Segelflieger das Segeln.

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Vita Karl Spurzem, geboren 1959 im Rheinland, studierte Kunstgeschichte, Romanistik und Städtebau. Nach Stationen bei der Berliner Tageszeitung Die Welt, einer Hamburger Musikzeitschrift und als freier Journalist wurde er im Sommer 2001 Chef vom Dienst bei mare, im Frühjahr 2008 stellvertretender Chefredakteur und Textchef. Seither lernt der Segelflieger das Segeln.
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Vita Karl Spurzem, geboren 1959 im Rheinland, studierte Kunstgeschichte, Romanistik und Städtebau. Nach Stationen bei der Berliner Tageszeitung Die Welt, einer Hamburger Musikzeitschrift und als freier Journalist wurde er im Sommer 2001 Chef vom Dienst bei mare, im Frühjahr 2008 stellvertretender Chefredakteur und Textchef. Seither lernt der Segelflieger das Segeln.
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