Das erste Mädchen vom Priwall

Früher fuhr sie zur See. Heute betreibt Gailana Lody eine Frauenpension in Schleswig-Holstein

Wer hier wohnt, geht nicht jeden Tag zum Meer, sondern denkt sich: „Das kannst du auch morgen noch!“ Mit Besuch ist das was anderes. Mit Besuch muss man unbedingt mal über’n Deich gucken. Also fahren wir zum Deich, steigen hinauf und sehen, dass Flut ist. Graue Nordsee schwappt bis zur obersten Stufe der Treppe, die von der Strandpromenade ins Watt führt. Keine Badegäste, nur ein Urlauberpaar aus Bayern auf Fahrrädern. Für unser Foto ergreift Gailana Lody das Geländer und posiert: eine Hand für sich, eine Hand für das Schiff. Jetzt können wir uns die 60jährige leicht als junge Matrosin vorstellen, die in der Nock vor dem Steuerhaus auf Wache ist und Ausguck geht.

Gailana Lody stammt aus Recklinghausen und fuhr von 1959 bis 1965 zur See. Als Abiturientin setzte sie ihren Traumberuf Nautikerin gegen alle Widerstände durch. Als erstes Mädchen ging sie „auf den Priwall“. Die „Priwallianer“, die Teilnehmer und Lehrer der Matrosenlehrgänge auf der Halbinsel Priwall gegenüber Travemünde, fühlten sich als Elite der Seeleute. Gailana bestand mit Auszeichnung und heuerte bei einer Reederei an. Lang ist’s her: Als Kennedy starb, befand sie sich mit dem Küstenmotorschiff „Assel“ wieder einmal auf dem Rückweg von England, mit einer Ladung Kohle. Hin hatten sie Getreide gebracht: „Was wir da immer gewaschen haben, um die Laderäume sauber zu kriegen!“

Um ihre umfassende Ausbildung wird die Pionierin heute von jüngeren Kolleginnen beneidet, die sie durch ein Netzwerk seefahrender Frauen kennengelernt hat. „Wir waren autark“, sagt Gailana Lody, „vom Blinddarmrausnehmen über sämtliche Flaggen, Funk- und Lichtmorsen bis zum Kochen haben wir alles gelernt!“

Ein Szenenwechsel in ihren Garten erbringt den Beweis: Die Zäune halten durch Seemannsknoten und Bändsel zusammen. Palsteke und Slipsteke sind bei Wind elastischer als Schrauben, und das Befestigen geht schneller, davon ist die ehemalige Seefahrerin fest überzeugt.

Seit 25 Jahren lebt sie in Dithmarschen. Sie mag diese Gegend im Südwesten Schleswig-Holsteins. Nur wenn es ihr schlecht geht, hört man, dass sie aus Westfalen kommt. Sie liebt das Meer, sie liebt den Sturm und den Winter, und sie hat sich hinter Haselsträuchern und Pappeln vergraben in einem Haus in Reinsbüttel, das sie mit ihrem Mann 1980 mitten in eine Weide gesetzt hat. Wie in der Marsch üblich, liegt das Haus auf einer Wurt, das ist ein Kieshaufen, der von einem Entwässerungsgraben umgeben ist.

Vögel haben den Holunder ausgesät. Der Garten wuchs in die Höhe. Johannisbeeren, Himbeeren, Stachelbeeren geben den Blick frei auf eine Laube. Holzmulch zwischen den Gemüsebeeten federt die Schritte ab, die sich anfühlen wie auf den schwingenden Planken eines Schiffes. Blassrosa erhebt sich die „Bruder Cadfael“-Rose über dem Lieblingssitzplatz, eine englische Züchtung, die dem Mönch Cadfael gewidmet ist, einem mittelalterlichen Krimihelden, dessen Biografie eine Parallele zum Lebensweg der früheren Matrosin bietet: Auch er war Gärtner und Seemann.

Gailana Lody gerät ins Schwärmen. Fast alle Wände in ihrem Haus sind mit Bücherregalen bedeckt. „Ich habe mehr Bücher als die nächste Buchhandlung“, sagt sie stolz. Noch viele Jahre nach dem Beginn ihres Landlebens platzierte sie die Bücher ganz nach hinten im Regal, aus Gewohnheit, damit sie bei Seegang nicht nach vorne kippen konnten. Jetzt stehen sie auf Kante.

Aber beim Waschen und Spülen schlägt noch immer die Seefahrt durch. Sie spart Wasser, denn Frischwasser war immer knapp an Bord. Und im Prinzip fährt sie bei ihrer Kleidung bis heute gut nach dem nautischen Prinzip „ein Teil zum Tragen, eins zum Waschen, eins zum Wechseln“. Für unseren Besuch hat es gerade eben gelangt. Sie lacht. Manchmal bringt der Wind einen Gruß vom sieben Kilometer entfernten Meer in den Garten. Dann liegt Salz auf den Fensterscheiben.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 10. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 10

No. 10Oktober / November 1998

Von Marianne Lange und Melanie Dreysse

Text: Marianne Lange

Melanie Dreysse, geboren 1966 in Hamburg, arbeitet seit 1996 als freie Fotografin, hauptsächlich im Bereich Portrait, Reportage und Reise unter anderem für Amica, Brigitte, National Geographic Germany, Stern, Zeit Magazin und mare. Sie ist Gründungsmitglied von Freelens, dem Verband der Fotojournalistinnen und Fotojournalisten e.V.

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Vita Text: Marianne Lange

Melanie Dreysse, geboren 1966 in Hamburg, arbeitet seit 1996 als freie Fotografin, hauptsächlich im Bereich Portrait, Reportage und Reise unter anderem für Amica, Brigitte, National Geographic Germany, Stern, Zeit Magazin und mare. Sie ist Gründungsmitglied von Freelens, dem Verband der Fotojournalistinnen und Fotojournalisten e.V.
Person Von Marianne Lange und Melanie Dreysse
Vita Text: Marianne Lange

Melanie Dreysse, geboren 1966 in Hamburg, arbeitet seit 1996 als freie Fotografin, hauptsächlich im Bereich Portrait, Reportage und Reise unter anderem für Amica, Brigitte, National Geographic Germany, Stern, Zeit Magazin und mare. Sie ist Gründungsmitglied von Freelens, dem Verband der Fotojournalistinnen und Fotojournalisten e.V.
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