Das Comeback des Schifferklaviers

Seemannslieder sind in Deutschland untrennbar mit dem Akkordeon verbunden

Die fünf Schüsse in der Diskothek des Hotels Interconti in der tschechischen Stadt Brünn trafen Michael Ganian in Kopf, Herz und Lunge – einen Tag vor seiner Konzertreise nach Amerika. Er wurde 42 Jahre alt. Der Killer verschwand unbehelligt in der Morgendämmerung des 13. April 2000.

Ganians Fans trauern – und spekulierten im Internet-Forum www.akkordeon.com über das Tatmotiv. Ging es um Geld? Schließlich galt der in Armenien geborene, in Tschechien lebende Virtuose mit dem melancholischen Blick auch als erfolgreicher Geschäftsmann: Seine selbst komponierten und selbst produzierten CDs verkauften sich rund um den Globus zu Hunderttausenden. Die französische Zeitung „Le Monde“ sprach seinen Melodien, die fremden Ländern und Mädchen gewidmet waren, die gleiche Wirkung zu wie exzellentem Rotwein. Michael Ganian, der Mann aus dem Osten, war ein Weltstar im Mikrokosmos der Akkordeonfreunde.

In dieser Gemeinde fühlt sich seit langem kaum noch ein Deutscher zu Hause. Erstes Indiz dafür: Die Sprache geht respektlos mit der Ziehharmonika um, nennt sie Knopfkiste, Quetschkommode, Teufelsbüchse, Trecksack, Zerrbalken, Wanzenpresse. Sogar in Harmonika-Kreisen kursiert der Witz: „Was ist der Unterschied zwischen einem Terroristen und einem Akkordeonisten? – Terroristen haben Sympathisanten.“

„Schifferklavier“ klingt im Vergleich zu solch starkem Tobak wenigstens neutral. Ein Solitär in der Harmonika-Familie mithin? „Nein“, sagt die auf diesem Gebiet führende Musikwissenschaftlerin Maria Dunkel, „die Geschichte des Schifferklaviers ist exakt die Geschichte der Handharmonika – unter Berücksichtigung des maritimen Umfeldes.“ In der Seefahrt habe man im letzten Jahrhundert gemerkt, „dass die Ziehharmonika ideal die rhythmischen Arbeitslieder der Seeleute begleiten konnte. Es waren Lieder über Heimweh, Sehnsucht oder Liebe.“

Augen- und ohrenfällige Pluspunkte der Ziehharmonika auf hoher See: Sie ist handlich, mobil und bei Bedarf lauter als das tosende Meer. Seit Akkordeon und Shanty besonders in Deutschland unauflöslich miteinander verbunden sind, gestehen selbst Verächter des Instrumentes ein, seine mal schmachtenden, mal quäkenden Halbtöne vermittelten irgendwas von weiter Welt und großer Fahrt.

Das macht sich vor allem die schunkelnde Alleinunterhalter-Szene zu Eigen. Für „Kapitän Klaus“ und seine Kollegen haben die meisten Menschen unterhalb des Rentenalters allerdings nur ein müdes Lächeln übrig. Und Freizeitangebote wie das „Vergnügen auf Rügen“ inklusive „buntem Melodienstrauß von der Waterkant mit Seemann Loschi und seinem Schifferklavier“ oder das „maritime Erlebniswochenende“ eines Bremer Hotels – „ab 219 DM, inklusive 4 herrlicher Stunden auf einem alten Gaffelkutter mit Hein Mück auf dem Akkordeon“ – interessieren ebenfalls eher ältere Herrschaften. Wobei es ihnen offenbar wenig ausmacht, promiskuitiven Textpassagen zu applaudieren: „Hein spielt abends so schön auf dem Schifferklavier. Er spielt sich in die Herzen der Mädels hinein, und sie bitten den Hein, immer wieder. Jede denkt für sich, heut’ spielt er für mich. Jede ist so froh, jede liebt ihn so!“

Angefangen hat alles in China. Vor fast 5000 Jahren nutzte man dort beim Bau des Sheng – einer Art Mundorgel – erstmals das Prinzip „freischwebender Zungen“: In einem schmalen Spalt wird ein Plättchen durch einen Luftstrom zum Durchschwingen gebracht. Die periodische Unterbrechung des Spielwinds erzeugt den Ton. Im Gegensatz dazu funktionieren Oboe und Klarinette nach dem Prinzip der „aufschlagenden Zungen“.

Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts schenkt Europa der Weiterentwicklung der „Chinesen-Orgel“ größere Aufmerksamkeit. Der Wiener Instrumentenbauer Cyrillius Demian „fixiert“ Akkorde, die durch Tastendruck erzeugt werden können, fügt einen Balg hinzu und lässt 1829 sein „Accordion“ patentieren. Der „hochlöblichen kk. allgemeinen Hofkammer“ zeigt er ein Gerät an, „welches in der Wesenheit darin besteht, dass selbes die Form eines kleinen Kästchens hat (...), und zwar so, dass es bequem eingesteckt werden kann, daher Reisenden, das Land besuchende Individuen, ein solches Instrument erwünscht seyn muss“. Noch ein weiteres Marketing-Argument hat Demian: „Es können auf demselben Märsche Arien, Melodien etc. selbst von einem Nichtkenner der Musik nach kurzer Übung, die lieblichsten angenehmsten, nach der Einweisung des Instruments 3, 4, 5 etc. tönigen Accorde gespielt werden.“

Das „Accordion“-Patent von Demian erlosch bereits 1834. Fortan tüftelten viele Instrumentenbauer an neuen Harmonika-Typen. Ob nun mit zwei oder mehr Knopfreihen ausgestattet, mit sichtbaren oder verdeckten Ventilen – das „Klavier der Armen“ blieb erschwinglich und entwickelte sich zum Verkaufsschlager, nicht nur in Europa. Auswanderer, Kolonialisten, Missionare und Seeleute trugen die Harmonika, die bei Bedarf ein ganzes Orchester ersetzen konnte, hinaus in die Welt. Selbst der große Forscher Fridtjof Nansen hatte bei seinen Exkursionen im Nordpolarmeer ein Akkordeon an Bord gehabt.


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mare No. 22

No. 22Oktober / November 2000

Von Sabine Kobes

Die Musikliebhaberin Sabine Kobes, Jahrgang 1960, lebt als freie Journalistin in Berlin. Zuvor leitete sie das „Reportage-Ressort“ der Tageszeitung Die Welt. Dies ist ihr erster Beitrag für mare

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Vita Die Musikliebhaberin Sabine Kobes, Jahrgang 1960, lebt als freie Journalistin in Berlin. Zuvor leitete sie das „Reportage-Ressort“ der Tageszeitung Die Welt. Dies ist ihr erster Beitrag für mare
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