An manchen Vormittagen kam er nach unten, seine Kleidung zerzaust, sein Haar ungekämmt, während meine Schwester und ich beim Frühstück in Badeanzügen saßen, bereit für den Strand. Er sagte dann mit einem breiten Lächeln: ‚Ich habe diese Nacht ein Meisterwerk gemalt.‘“ Die jüngere Tochter Lise erinnert sich gut an diese Momente, wenn ihr Vater Robert Motherwell, einer der bedeutendsten Maler des Abstrakten Expressionismus, wieder einmal sein Innerstes auf die Leinwand bannen konnte und mit den Einflüssen der Küste Provincetowns im Einklang war. In einer dieser lauen Sommernächte im Atelier direkt am Strand der Atlantikhalbinsel Cape Cod entstand 1972 das abstrakte Bild „August Sea, No. 3“. Mit einem offenen, leuchtend blauen Farbfeld, lebendig und energiegeladen und nur von zwei schwarzen Strichen unterbrochen, evoziert es einen atmosphärischen Raum für Stille und Weite und Wärme, den Salzgeschmack in der Luft eines lauen Sommerabends – das Gefühl eines vibrierenden Augusttags am Meer.
Doch nicht immer befand sich der Meister mit sich und seinem Werk in Einklang. Im Gegenteil. Gefragt nach dem Grund für das Malen von Serien, antwortete er, so berichtet es Lise, dass er nie das Gefühl hatte, es „richtig gemacht zu haben, also musste er versuchen, den Moment erneut einzufangen“ – Motherwell musste seine ihn innerlich aufwühlenden Themen immer und immer wieder aufarbeiten. So auch in seiner ersten bedeutenden Serie „Spanish Elegies“, in der er mit über 200 Werken seine qualvolle Kindheit und die Folgen des Spanischen Bürgerkriegs verarbeitete. Motherwell war ein Student von 21 Jahren, als 1936 die Schrecken des dreijährigen Krieges begannen, von denen er später sagen sollte, dass sie das „bewegendste politische Ereignis“ seiner Jugend waren. „Ich muss betonen, dass meine ‚Spanish Elegies‘ genau das sind, Elegien im traditionellen Sinne […] Eine Elegie ist eine Form der Trauer, kein Aufruf zum Handeln, sondern eine Symbolisierung der Trauer, lyrisch im Sinne einer Ausgießung, schwarz im Sinne des Todes, so wie Weiß, das alle Farben enthält, das Leben repräsentiert.“
Robert Motherwell wurde am 24. Januar 1915 in der Kleinstadt Aberdeen an der amerikanischen Westküste in eine wohlhabende Familie geboren – sein Vater war Präsident der Wells-Fargo-Bank –, wuchs jedoch unglücklich auf. „Es gab eine große Feier zu meinem 14. Geburtstag, weil niemand dachte, dass ich dieses Alter erreichen würde.“ Anlass für die Erleichterung war das Überstehen bedrohlicher Asthmaanfälle, die den Jungen vor allem nachts anfielen und panisch nach Luft schnappen ließen, dazu kam die elterliche Gewalt. „Meine Mutter schlug mich als Kind fürchterlich, bis mir das Blut aus dem Kopf lief. Und mein Vater tat das gelegentlich auch.
So wuchs ich entsetzlich nervös, angstvoll und erstickend auf.“ Motherwells Tochter sieht einen Zusammenhang: „Seine Unfähigkeit, sich zu Hause frei zu äußern, führte zu lebensgefährlichem Asthma und einem tiefgreifenden Gefühl der Isolation und Verwirrung. Zu Hause erdrückt, kämpfte er mit Depressionen und entwickelte eine obsessive Angst vor dem Tod. Seine Malerei – mit ihrer vorherrschenden Verwendung von Weiß und Schwarz – erinnert an diesen Kampf zwischen den Kräften von Leben und Tod.“
Luft und vor allem Lebensfreude fand der junge Robert, der seinem Vater zuliebe ein Studium der Literatur und Philosophie in Stanford begonnen hatte, erst auf Reisen und in der Begegnung mit der Kunst. Mit gerade 20, auf einer „Grand Tour“ durch Europa, entdeckte er in Paris Werke von Künstlern wie Pablo Picasso, Juan Gris oder des Surrealisten André Breton, am Mittelmeer betörten ihn das Licht und die heitere Stimmung. Frankreich und Italien, „wo das Essen besser war, die Kunst besser war, die Menschen reizvoller und das Klima sonniger“, weckten bei ihm das Interesse an der Malerei und verzauberten ihn mit ihrer hedonistischen Geisteshaltung, die im Gegensatz zu seinem puritanischen Zuhause stand.
Zurück in seiner Heimat, begann Motherwell ein Studium des französischen Symbolismus und besuchte die Vorlesungen von Gertrude Stein, der berühmten Schriftstellerin, Kunstsammlerin und Vermittlerin von Picasso und Matisse, Fitzgerald und Hemingway. Doch viel entscheidender wurde ein Besuch der Sammlung Michael Steins, Gertrudes älterem Bruder, in Palo Alto. 1935 wurde Motherwell von einem Tennispartner zu einer Cocktailparty eingeladen. „Er sagte: ‚Ich habe gehört, dass Sie sich für Bilder interessieren‘“, erinnerte sich Motherwell. „‚Nun, diese Leute haben einige Bilder.‘“ „Ich sagte: ‚In diesem Fall komme ich mit‘, denn in San Francisco gab es damals überhaupt keine Bilder. Und siehe da, es stellte sich heraus, dass es sich um die berühmte Stein-Sammlung handelte. Ich sah Matisse-Bilder, die mich durchdrangen wie ein Pfeil, und von diesem Moment an wusste ich genau, was ich wollte.“ Vor allem beeindruckte ihn Matisse’ monumentales Werk „Tea“, von dem die Kuratorin der Stein-Sammlung Janet Bishop später sagte: „Wenn man dieses große, horizontale Gemälde betrachtet und blinzelt, kann man wirklich die Formen erkennen, die Motherwell verwendet hat.“
Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 170. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.
Seit über 40 Jahren begeistert sich mare-Chefredakteur Nikolaus Gelpke für den Abstrakten Expressionismus, insbesondere für die Werke Motherwells, da diese immer wieder faszinierende Bezüge zum Meer aufweisen. Dass Motherwell diese Bezüge aufgrund seines Philosophiestudiums inhaltlich untermauern kann, ist zudem einmalig für diese Kunstepoche in den USA.
Lieferstatus | Lieferbar |
---|---|
Vita | Seit über 40 Jahren begeistert sich mare-Chefredakteur Nikolaus Gelpke für den Abstrakten Expressionismus, insbesondere für die Werke Motherwells, da diese immer wieder faszinierende Bezüge zum Meer aufweisen. Dass Motherwell diese Bezüge aufgrund seines Philosophiestudiums inhaltlich untermauern kann, ist zudem einmalig für diese Kunstepoche in den USA. |
Person | Von Nikolaus Gelpke |
Lieferstatus | Lieferbar |
Vita | Seit über 40 Jahren begeistert sich mare-Chefredakteur Nikolaus Gelpke für den Abstrakten Expressionismus, insbesondere für die Werke Motherwells, da diese immer wieder faszinierende Bezüge zum Meer aufweisen. Dass Motherwell diese Bezüge aufgrund seines Philosophiestudiums inhaltlich untermauern kann, ist zudem einmalig für diese Kunstepoche in den USA. |
Person | Von Nikolaus Gelpke |