Das Atmen der Lagune

Umweltschutz, wirtschaftliche Interessen und der Schutz vor dem Hochwasser blockieren sich gegenseitig

Es ist ein Ritual: Bilder des überschwemmten Markusplatzes stehen für das Klimaproblem der Jahrtausendwende: den Anstieg des Meeresspiegels durch den Treibhauseffekt. Doch nach dem öffentlichen Schauder darüber, dem Untergang kurz ins Auge gesehen zu haben, schlüpfen die Venezianer in ihre Gummistiefel und hoffen, dass es so schlimm schon nicht kommen wird. Dabei ist durchaus mit dem Ruin der Lagunenstadt und der Lagune selbst zu rechnen.

Nur wenig erinnert noch an den Urzustand dieser Region aus Wasser und Land. Die heutige Gestalt ist das Resultat eines fast tausendjährigen Eingriffs durch den Menschen. Ihre Entstehung verdankt sie einem natürlichen Kräftespiel zwischen Land und Meer: Die Flüsse Brenta, Sile und Piave schwemmten große Mengen Sand und Geröll heran, die sich vor der Küste ablagerten. Meeresströmungen formten daraus lang gezogene Sandbänke, die eine Wasserfläche von 550 Quadratkilometern einschlossen: die Lagune. Nur durch drei schmale Pforten zwischen den Sandbänken, italienisch: „porti“, ist sie mit dem Meer verbunden; die anderen wurden nach und nach verschlossen.

Der Erfolg der Republik Venedig als größter Handels- und Kriegsmacht des 14. Jahrhunderts wäre ohne die Lagune, aus deren Mitte die Stadt wie eine Insel ragt, nicht möglich gewesen. Sie war für Feinde aus dem Hinterland schwer einzunehmen und bot freien Zugang zum Mittelmeer. Die vorgelagerten Sandbänke schützten andererseits vor der zerstörerischen Kraft der Gezeiten. In der Lagune verteilte sich das auflaufende Wasser in einem Labyrinth aus Prielen, Salzwiesen und Sandbänken.

Früher als anderswo im mittelalterlichen Europa begriffen die Regierenden der Republik Naturgewalten nicht als unabwendbares Schicksal. Bereits Ende des 13. Jahrhunderts erließen sogenannte Wasser-Räte detaillierte Gesetze zum Schutz der Lagune; wer sie missachtete, dem drohten Enteignung und Kerker. Gegen Spring- und Sturmfluten, die in Meeresbuchten wie der Adria häufiger auftreten, errichteten die Venezianer Deiche. Rund 140000 Baumstämme fielen allein für den Bau von Palisaden. Da deren Erhalt aufwändig und teuer war – die Stämme verrotteten schnell und wurden im Durchschnitt alle fünf Jahre ausgetauscht –, verschlangen die Palisaden nach und nach große Waldgebiete.

Im 18. Jahrhundert verbesserten die Venezianer ihren Hochwasserschutz. Auf den Sandbänken errichteten sie Dämme aus istrischem Kalkstein, die Murazzi. Dieses gigantische Projekt verwandelte die Lagune für 30 Jahre in eine Großbaustelle. Es war die letzte Investition der Republik gegen das Hochwasser: 1797 kapitulierte Venedig vor den napoleonischen Truppen und verlor seine Unabhängigkeit.

Zwei Jahrhunderte später scheint der Kampf gegen das Hochwasser selbst nahezu verloren. Während der Sturmflut am 4. November 1966 brachen die Murazzi, die seit 1930 nicht mehr erneuert worden waren. Die Fluten der Adria überrollten die Lagune, in Venedig stieg das Wasser bis auf 1,94 Meter über Normalnull. Zwar hat die Stadt aus der Vernachlässigung der Dammpflege Lehren gezogen und die Murazzi saniert sowie die Molen vor den drei Porti verlängert. Trotzdem schwappt immer wieder Hochwasser in die historische Dogenstadt. Der niedrig gelegene Markusplatz, der schon bei einem Pegel von 80 Zentimetern über Normalnull unter Wasser steht, erlebt diesen Zustand bis zu 80mal im Jahr. Höher gelegene Gebiete der Stadt verkraften einen Wasserstand bis zu 1,10 Meter.

Die Trockenzeiten auf dem Markusplatz werden kürzer. Mit der Flut dringen heute schneller größere Wassermassen in die Lagune ein als früher, das Hochwasser steigt höher, das Niedrigwasser fällt tiefer. Eine Ursache ist der Hafen von Marghera, mit dessen Bau zwischen den Weltkriegen die wirtschaftliche Expansion in die Lagune begann. Wasserarme und die als Überflutungsgebiete wichtigen Salzwiesen wurden trockengelegt und mit Industrieanlagen bebaut. Sogar der Flughafen schiebt sich wie ein Bollwerk aus Zement in die Lagune. Anfang des Jahrhunderts erstreckten sich die Salzwiesen – italienisch: „barene“ – über eine Fläche von 90 Quadratkilometern, heute nur noch über die Hälfte. Fischfarmen blockieren ebenfalls die Verteilung des Wassers in der Lagune. Die eingedeichten Becken für die Aufzucht von Aalen, Doraden, Barschen und Flundern nehmen inzwischen etwa ein Sechstel der Wasserfläche ein.

„Könnte man die Gebiete der Fischfarmen wieder als Überflutungsfläche nutzen“, erklärt Georg Ungießer, „würde der durchschnittliche Flutpegel um bis zu zehn Zentimeter sinken.“ Der Ozeanologe entwarf 1998 für das Nationale Forschungszentrum in Venedig verschiedene Szenarien, wie sich die Gefahr von Hochwasser verringern ließe. Danach würden auch flachere Fahrrinnen „die Situation deutlich entspannen“.

Die immer tiefer ausgebaggerten Schifffahrtsstraßen beschleunigen die Fluten nämlich ebenfalls. Ein Verbot für Tanker in der Lagune fordert deshalb Piero Bevilacqua, Umwelthistoriker an der Universität Bari, ebenso wie Greenpeace Italien und die Grünen des Landes. Allerdings hat Bevilacqua erkannt, „dass heute die ökonomischen Interessen und der Schutz der Lagune so unvereinbar sind wie nie zuvor.“ Die Industrie des Hinterlandes setzt die Maßstäbe. Der Hafen, den jährlich 5000 Frachtschiffe und Tanker anlaufen, ist für Bürgermeister Massimo Cacciari ebenso tabu wie der Flughafen, der sogar noch ausgebaut werden soll. Sie gelten als Garanten für den wirtschaftlichen Erfolg der Region.


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mare No. 18

No. 18Februar / März 2000

Von Rose-Marie Mappeck

Rose-Marie Mappeck, Jahrgang 1947, lebt als freie Journalistin in Friedrichshafen. Dies ist ihr erster Beitrag in mare

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