Darwins „Bulldogge“

Ernst Haeckel war glühender Verfechter der Evolutionstheorie. Und doch vermutete er einen göttlichen Funken in der Natur

Der Moment, an dem die Evolutionstheorie in Deutschland ihren Siegeszug beginnt, lässt sich fast auf die Stunde genau datieren. Es ist der frühe Morgen des 16. Februar 1864. In einer kleinen thüringischen Universitätsstadt stirbt eine junge Frau. Anna Haeckels Tod kommt überraschend. Eben erst haben die Ärzte sie für gerettet erklärt. Gerade noch hat sie ihrem verzweifelten Gatten Ernst, dem glänzenden jungen Professor der Zoologischen Fakultät von Jena, mit mattem, aber aufmunterndem Lächeln die Hand gedrückt. Sie hat ihm Glück gewünscht zu seinem 30. Geburtstag, den er heute begeht. Haeckel atmet auf. Anna, seine große Liebe, seine Seelenverwandte, die Frau, die er gegen alle Widerstände geheiratet hat, wird leben.

Dann, Minuten später, ohne Vorwarnung, das Ende. Der Witwer ist wie von Sinnen, tage-, wochen-, monatelang. Er spricht nicht mehr. Er zieht sich zurück. Er tritt nicht mehr vor seinen Hörern auf. Haeckel – der heute berühmteste deutsche Biologe – grübelt über eine Frage, die wohl jeden Menschen in ähnlicher Situation gepeinigt hätte: Warum traf es gerade sie? Aber Haeckel ist kein Leidender, der still und unsystematisch verzweifelt. Er ist Forscher und er ist Naturphilosoph. Und darum wird sein Leiden zur Erkenntnis. Wenn die größte Liebe so machtlos gegen den Tod ist, dann muss es also doch wahr sein: Dann regieren blinder Zufall und ziellos gleichgültige Gesetze die Welt.

Von einem Tag auf den anderen schwört der junge Gelehrte der wissenschaftlichen Tradition ab, mit der er groß geworden ist – der romantischen Idee, die ihm in stundenlangen Gesprächen mit seiner verstorbenen Frau am teuersten war: dass sich in der Schönheit der Natur das Göttliche zeige. Nein. All die deutschen Naturphilosophen irren. Gott ist stumm, das weiß Haeckel jetzt. Alles ist Kampf, und nur wer ihn aushält, siegt. Im Reich der Lebewesen regiert die blinde Auslese – das Prinzip, das Charles Darwin gerade entdeckt hat. Haeckel wird von nun zu dessen kompromisslosem Vertreter, zu Darwins deutscher „Bulldogge“.

Dabei ist der junge Denker ein sensibler Schöngeist, der lange zwischen seinem Drang, die lebende Natur zu ergründen, und seinem großen Talent zum Malen schwankt. Der Vater drängt ihn zum Medizinstudium. Mühsam quält sich der junge Ernst durch die anatomischen Praktika. Kaum approbiert, stellt er fest, dass er Kranke und ihre Gebrechen nicht ertragen kann.

Haeckel entschließt sich, bei dem berühmten Johannes Müller Biologie zu hören. Der damals einflussreichste Biologe Deutschlands hat Goethes ganzheitliche Sicht des Lebens verinnerlicht und doch ein radikales Programm moderner Naturforschung ausgerufen. Müller nimmt Haeckel mit auf die Insel Helgoland. Mit einem Damenstrumpf, auf einen Drahtring gestreift, keschern sie Plankton aus dem Ozean – bizarre Krebse, transparente Würmer, lichtdurchschauerte Medusen. Für den jungen Mann werden die wenigen Wochen auf dem Felseneiland in der Nordsee zur Gottesschau. Die den meisten Biologen bis dahin unbekannte Vielfalt der kleinsten Meerestiere lässt dem empfindsamen Studenten die ganze Natur als gewaltigen expressiven Rausch erscheinen.

In einem einzigen leuchtenden, salzdurchsprühten Sommer öffnet sich für Haeckel die Tiefe der Schöpfung. In immer neuen Briefen schüttet er seiner Verlobten das übergehende Herz aus. Die Vielfalt des Lebens, so kommt es ihm vor, ist eine Offenbarung, in der sich gigantisches Kunstwollen zeigt. Der Zweck des Daseins scheint ihm zu jener Zeit weniger Effizienz als vor allem Schönheit, Harmonie, Symmetrie. Die Natur ist eine Künstlerin, und eigentlich, ja eigentlich – müsste man selbst Maler sein, um das ganz zu begreifen. Der junge Biologe ist zerrissen. Mit einem Freund fährt er nach Italien, damals das Sehnsuchtsziel deutscher Künstler. Die zwei Bohemiens wandern die Küste hinab und zeichnen. „Ich will als Maler leben!“, schreibt er Anna. Doch zu Hause gewinnt Vernunft die Oberhand. Will Haeckel Anna heiraten, braucht er ein Einkommen, und das scheint eher als ordentlicher Wissenschaftler möglich. Haeckel ahnt, dass er vor der Leinwand künstlerischer Dilettant bleiben wird, vor dem Mikroskop aber ein großer Künstler werden kann.

Noch ist die Welt des Lebendigen voller weißer Flecken, die zu füllen sind. Haeckel reist viel und weit, schreibt ein Standardwerk über Radiolarien, Einzeller, deren Kieselskelette sie als verborgene Juwelen der Ozeane erscheinen lassen. Er wertet einen Teil der Ergebnisse des britischen Forschungsschiffs „Challenger“ aus, das seine Netze durch die Tiefen der Weltmeere gezogen hat. Haeckel zeichnet und malt, was er sieht, als „Kunstformen der Natur“ – ein Werk, das, als es 1899 erscheint, ein Bestseller wird und in den Büchervitrinen des Bildungsbürgertums neben den Goethe-Bänden Platz findet. Doch Haeckels Sicht hat sich nach Annas Tod gewandelt. Für ihn steht nun fest: Schönheit ist nicht Ausdruck eines geheimen kosmischen Strebens, sondern das planlose Ergebnis blinder Gesetze. Die Biosphäre optimiert sich, ist Haeckel von Darwin überzeugt, und der Stärkste gewinnt. Aber dennoch – irgendwie ist der Sieger in diesem blinden Rüsten doch auch immer der Schönere, Symmetrischere. Schönheit kämpft in der blinden Mechanik der Welt um ihren Platz – und sie ringt darum in der Seele des großen Gelehrten. Haeckels Weltbild bleibt widersprüchlich.


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mare No. 68

No. 68Juni / Juli 2008

Von Andreas Weber

Andreas Weber, geboren 1967, ist promovierter Philosoph und Meeresbiologe. In seinen Reportagen und Büchern geht er bevorzugt der Frage nach, welches schöpferische Band den Menschen mit der Natur verknüpft. Im vergangenen Frühjahr erschien im Berlin Verlag sein literarisches Sachbuch Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften, im Herbst veröffentlicht er Biokapital. Die Versöhnung von Ökonomie, Natur und Menschlichkeit, ebenfalls im Berlin Verlag. Zuletzt schrieb er in mare No. 65 einen Aufsatz über das Verhältnis des Menschen zum Meer. Weber lebt in Berlin.

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Vita Andreas Weber, geboren 1967, ist promovierter Philosoph und Meeresbiologe. In seinen Reportagen und Büchern geht er bevorzugt der Frage nach, welches schöpferische Band den Menschen mit der Natur verknüpft. Im vergangenen Frühjahr erschien im Berlin Verlag sein literarisches Sachbuch Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften, im Herbst veröffentlicht er Biokapital. Die Versöhnung von Ökonomie, Natur und Menschlichkeit, ebenfalls im Berlin Verlag. Zuletzt schrieb er in mare No. 65 einen Aufsatz über das Verhältnis des Menschen zum Meer. Weber lebt in Berlin.
Person Von Andreas Weber
Vita Andreas Weber, geboren 1967, ist promovierter Philosoph und Meeresbiologe. In seinen Reportagen und Büchern geht er bevorzugt der Frage nach, welches schöpferische Band den Menschen mit der Natur verknüpft. Im vergangenen Frühjahr erschien im Berlin Verlag sein literarisches Sachbuch Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften, im Herbst veröffentlicht er Biokapital. Die Versöhnung von Ökonomie, Natur und Menschlichkeit, ebenfalls im Berlin Verlag. Zuletzt schrieb er in mare No. 65 einen Aufsatz über das Verhältnis des Menschen zum Meer. Weber lebt in Berlin.
Person Von Andreas Weber