Er hat sein Ruderboot auf den Namen „Riscatto“ getauft, was so viel heißt wie Erlösung. Oder Freikauf. Oder Lösegeld. Oder Rückzahlung. Es kann aber auch Einlösung bedeuten. Es trägt die italienischen Nationalfarben Grün, Weiß, Rot und liegt im Hafen von Giulianova unweit der Flotte der Muschelfischer: ein pattino, ein H-förmiges Ruderboot, in dem man wie auf Kufen übers Wasser gleitet, im Italienischen heißt pattino auch Schlittschuh. Heute wird dieses Ruderboot vor allem von Rettungsschwimmern benutzt. Für Gabriellino Fioravante Palestini steht sein Boot für die Rettung seines Lebens.
Auf diesem Ruderboot durchquert er jedes Jahr die Adria: 90 Seemeilen vom kroatischen Šibenik nach Giulianova. Bei seiner ersten Durchquerung war er 63 Jahre alt, und auch mit 79 denkt er nicht daran aufzuhören. „Wenn ich auf dem Meer bin und trainiere, gibt es nur mich, das Meer und den Himmel.“ Sein Rekord liegt bei 27 Stunden. Das ganze Jahr verbringt er mit Vorbereitung, im Winter mit Gymnastik morgens zu Hause, Liegestütze, ein paar Gewichte, das übliche Programm. Im Sommer rudert er täglich zwei, drei Stunden, morgens und abends. Bis er die Adria wie jedes Jahr erneut durchquert und die italienischen Zeitungen über ihn berichten wie über einen Bußgänger bei einer Wallfahrt der besonderen Art: einer, der ganz oben war und ganz unten und der sich selbst rettete – mit Willenskraft und einem Ruderboot.
Denn Gabriellino ist kein sportbegeisterter Senior, sondern ein Wiedergänger, einer, der sich selbst überlebt hat. Die jährliche Überquerung der Adria ist für ihn nichts Geringeres als die Einlösung seines Versprechens: eine Kampfansage an sich selbst. Er sprach sie aus, als er in ägyptischen Gefängnissen saß, verurteilt zu 25 Jahren Haft wegen Drogenschmuggels. Sein Ziel war, diese Haft zu überleben, nach Giulianova zurückzukehren und dort wieder über die Adria zu rudern. So, wie er es tat, bis es zu dem kam, was er bis heute „die Sache“ nennt und die sein Leben in zwei Teile trennte: in das Leben vor und nach „der Sache“.
Gabriellino heißt eigentlich Fioravante Palestini, aber für alle ist er nur Gabriellino, der kleine Gabriele. Was für ein Name für diesen Baum von Mann. Schon sein Großvater hieß Fioravante, einem selbst für italienische Verhältnisse ausgefallenen Vornamen, und wurde Gabriele genannt, wie der in den Abruzzen verehrte Schutzheilige San Gabriele dell’Addolorata. Um die Familientradition zu erhalten, wurde auch der Enkel auf den Namen Fioravante getauft – und Gabriellino genannt. Fioravante ist ein Name, der seinen Ursprung in mittelalterlichen Heldenepen hat. Für Gabriellino war der Name Verheißung und Verpflichtung zugleich – für ein Leben als Heldenreise: von der Adria nach Deutschland, nach Bangkok und ins Goldene Dreieck, über den Suezkanal in ein ägyptisches Gefängnis und wieder zurück.
Gabriellino wuchs in Giulianova auf, einem kleinen Seebad an der Adriaküste zwischen Ancona und Pescara. In der Ferne leuchten die schneebedeckten Gipfel des Gran Sasso, des Gebirgsmassivs der Abruzzen. Wenn man mit ihm durch seine Heimatstadt läuft, grüßt ihn jeder wie einen vertrauten Freund. Mittags trifft man ihn im Restaurant „Il Gabbiano“, wo sich Gabriellino, weil er dazugehört, nicht an einen Gästetisch setzt, sondern an den Tisch des Wirts. Zum Hafen gehört er auch, wo er morgens, wenn die Boote einlaufen, seine Runde macht und die Fischer ihn am Fang teilhaben lassen, genauso wie zur Bar an der Strandpromenade, wo die Kellnerin ihm seinen cappuccetto dell’amore serviert.
Ein Jahr nach Kriegsende ist Gabriellino hier zur Welt gekommen, keine 20 Meter vom Meer, sein Vater war Fischer. Mit ihm rudert er bereits als Elfjähriger: Morgens gegen vier, halb fünf, rudert er mit seinem Vater hinaus, kehrt um acht zurück und geht zur Schule. Der Lido mit der palmenbestandenen Strandpromenade und den Hotels, zwischen denen sich noch vereinzelte Jugendstilvillen gehalten haben, ist seine gewohnte Welt – aus der Gabriellino in den 1950er-Jahren aufbricht, als Italien sein Wirtschaftswunder erlebt und der Tourismus in Giulianova seine erste Blütezeit.
Der groß gewachsene, athletische Gabriellino verbringt seine Zeit mehr mit Rudern, Schwimmen und Gewichtheben als mit der Schule. Er arbeitet als Skipper für die ersten Nutznießer des italienischen Wirtschaftswunders und wird am Strand von einem Werbefilmer entdeckt. Der Ruf des Abenteuers erfolgt in Form eines Werbespots für Plätzchen der Marke Plasmon: Im Lendenschurz eines Gladiators meißelt der 17-Jährige den Markennamen in eine Marmorsäule – und wird so zur Ikone einer ganzen Generation.
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Für Autorin Petra Reski war es ein ungeplantes Wiedersehen mit dem einstigen Mafioso und Kronzeugen Gaspare Mutolo in Giulianova. Sie hatte Mutolo vor Jahrzehnten im Gerichtssaal von Leibwächtern umringt erlebt, als er beim Prozess über die Hintergründe des 1992 ermordeten Anti-Mafia-Staatsanwalts Giovanni Falcone aussagte. Sie wusste viel von ihm – aber nicht, dass er auch in den Drogendeal mit Gabriellino verwickelt war.
Giovanni Cocco, Jahrgang 1973, lebt als bildender Künstler und Fotograf in Rom. Erinnerung und Identität sind bevorzugte Themen seiner Arbeit. Wie diese sich gegenseitig bedingen, hat ihn auch bei Gabriellino beschäftigt.
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| Vita | Für Autorin Petra Reski war es ein ungeplantes Wiedersehen mit dem einstigen Mafioso und Kronzeugen Gaspare Mutolo in Giulianova. Sie hatte Mutolo vor Jahrzehnten im Gerichtssaal von Leibwächtern umringt erlebt, als er beim Prozess über die Hintergründe des 1992 ermordeten Anti-Mafia-Staatsanwalts Giovanni Falcone aussagte. Sie wusste viel von ihm – aber nicht, dass er auch in den Drogendeal mit Gabriellino verwickelt war. Giovanni Cocco, Jahrgang 1973, lebt als bildender Künstler und Fotograf in Rom. Erinnerung und Identität sind bevorzugte Themen seiner Arbeit. Wie diese sich gegenseitig bedingen, hat ihn auch bei Gabriellino beschäftigt. |
| Person | Von Petra Reski und Giovanni Cocco |
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| Vita | Für Autorin Petra Reski war es ein ungeplantes Wiedersehen mit dem einstigen Mafioso und Kronzeugen Gaspare Mutolo in Giulianova. Sie hatte Mutolo vor Jahrzehnten im Gerichtssaal von Leibwächtern umringt erlebt, als er beim Prozess über die Hintergründe des 1992 ermordeten Anti-Mafia-Staatsanwalts Giovanni Falcone aussagte. Sie wusste viel von ihm – aber nicht, dass er auch in den Drogendeal mit Gabriellino verwickelt war. Giovanni Cocco, Jahrgang 1973, lebt als bildender Künstler und Fotograf in Rom. Erinnerung und Identität sind bevorzugte Themen seiner Arbeit. Wie diese sich gegenseitig bedingen, hat ihn auch bei Gabriellino beschäftigt. |
| Person | Von Petra Reski und Giovanni Cocco |