Bunt ist das Leben

Tropische Korallenriffe bedecken gerade 0,1 Prozent der Erdoberfläche, aber sie sind Habitat von bis zu neun Millionen Arten von Lebewesen. Eine unerfassbar reiche, lebensprühende Sphäre voller seltsamer Schönheit und irritierender Rätsel.

Den ganzen Tag über haben wir beobachtet, wie die Doktorfische dicht an dicht in einzelnen Reihen über die Abhänge des äußeren Riffes strömten. Jetzt, in der letzten Stunde des Tageslichts, finden sie sich gruppenweise zusammen, bilden Banner aus gelben und blauen Flossen, fließen in bunter Pracht über die Konturen des Korallenriffs zur Passage von Tiputa. Angeregt vom Aufgang eines abnehmenden Mondes über dem Südpazifik, drängen sich die Doktorfische aneinander, steigen nach oben, stoßen zusammen, sinken zurück aufs Riff, stieben auseinander, kreisen, gruppieren sich erneut, steigen wieder empor. Ein Dutzend Mal vollführen sie diese Bewegungen, und jede Runde trägt sie weiter nach oben, fort vom sicheren Korallenriff.

Das Vorspiel findet seinen Höhepunkt in dem, was die Wissenschaftler Laichen nennen und die französischen Taucher, mit denen ich zusammen bin, charmant als Liebemachen bezeichnen – ein Doktorfischpärchen löst sich aus der Menge und schießt in unglaublich rasantem Bogen nach oben, wo es Sperma und Eier in einer milchigen Wolke ins offene Wasser spritzt. Ohne innezuhalten, schnellt das Paar mit einer für das menschliche Auge fast nicht wahrnehmbaren Geschwindigkeit zum Riff zurück. Weitere Paare folgen. Und noch weitere. Auf dem Höhepunkt eines jeden Ausbruchs hängt der ejakulierte weiße Bausch ruhig im Wasser, doch im Innern spielen sich, da die Chemie der Befruchtung beginnt, wildeste Bewegungen ab, denn den Spermien bleibt für die kurze Reise zum Ei nur ein Augenblick, bis die Gameten vom Wasser, das aus der Passage herausströmt, erfasst, auseinandergerissen und in die tiefe See hinausgetragen werden.

Jetzt, da es zu dunkel wird, um unter Wasser noch etwas sehen zu können, fahren wir im Licht eines Sonnenuntergangs, der so sanft und fließend ist wie ein Aquarell, mit dem Motorboot zurück ans Ufer. Während wir unsere Gerätschaften am Kai abspülen, leuchten die Gesichter meiner Mittaucher vor Seligkeit. Das ist immer so, egal, wer sie sind oder wie sie heißen oder wo das Korallenriff liegt. Jetzt, da wir von der Tiputa-Passage zurückkehren, sind es die Gesichter zweier junger Franzosen. Beide führen hier, an diesem fragilen Saum zwischen Land und Meer, professionelle Tauchkurse durch, und sie hätten alles Recht der Welt, erschöpft zu sein. Aber das Gegenteil ist geschehen. Das Riff hat diese zähen jungen Männer in einen Zustand der Verzückung versetzt, sodass sie in diesem Augenblick schön wie Engel erscheinen.

Nur selten kann man im freien Wasser diesen Moment der Befruchtung beobachten, und so sind wir freudig und erleichtert, als hätten wir unter Lebensgefahr einen Gipfel erklommen. Die beiden Franzosen sind beglückt, dass ihnen dieser Tag ein so schönes Geheimnis offenbarte. In meinem Bungalow kontrolliere ich meine wasserfeste Schreibtafel, um die Notizen in mein Tagebuch zu übertragen – muss aber lachen, als ich nur ein einziges Ausrufezeichen darauf entdecke.

Das ist das Paradox des Riffes: eine Welt, die von reiner und außergewöhnlicher Sinnlichkeit zu sein scheint, doch größtenteils außerhalb des uns eigenen Sinnenbereichs existiert. Wir riechen unter Wasser nichts (obwohl das Meer voller Gerüche ist), schmecken nur das metallische Schwirren komprimierter Luft, sehen kaum etwas und sind auf ein Gehör beschränkt, das keine Richtungen zu unterscheiden vermag; wir sind, alles in allem, behindert. Auch miteinander reden können wir nicht. Ohne Sprache, ohne die richtigen Worte ist der menschliche Taucher auf einen präverbalen Geisteszustand zurückgeworfen.

So ist der Tauchgang, den man gerade gemacht hat, eher ein Gefühl als eine tatsächliche Erinnerung, und die kleine Plastiktafel, die man pflichtschuldig mit sich führt, um Notizen zu machen, zeigt nur Kritzeleien oder seltsame Hieroglyphen, die umso schwieriger zu entziffern sind, da die Spuren, die sich angeblich durch Reiben mit Sand entfernen lassen sollen, niemals ganz verschwinden, sodass man immer mit den geisterhaften Umrissen aller früheren, ebenso rätselhaften Tauchgänge zu kämpfen hat.

Auf unserem Planeten gibt es nur 330 Korallenatolle, jene halskettenförmigen Inseln, die aus sandigen Eilanden rund um eine tropische Lagune bestehen. Rangiroa ist eines der 77 Atolle des Tuamotu-Archipels, der seinerseits zu den fünf Archipelen Französisch-Polynesiens gehört. Zusammengenommen bedecken alle Inseln Französisch-Polynesiens im Südpazifik ein Gebiet, das größer ist als Westeuropa, und die Tuamotus umfassen ein Meeresgebiet, das größer ist als Kalifornien.

Der Pazifik beheimatet 40 Prozent aller auf der Welt existierenden Riffe, dazu das ausgedehnteste Barriereriff und die größten Atollformationen des Planeten. Auf dieser unermesslich produktiven und gefährlichen Wasserweite schwebt das kleine Rangiroa wie ein gefallenes Blütenblatt – zu klein, so scheint’s, um zu überleben oder überleben zu lassen. Doch ist Rangiroa das zweitgrößte Atoll der Erde. Es erstreckt sich 80 Kilometer in ost-westlicher und 32 Kilometer in nord-südlicher Richtung. Inmitten des Atolls liegt eine fast 1000 Quadratkilometer große Lagune, eingefasst von einer 220 Kilometer langen Kette von insgesamt 418 Inselchen. Die Tahitianer nennen eine solche Insel Motu, und sie ist eigentlich kaum mehr als eine Sandbank, denn sie ragt nur ein paar Meter über den Meeresspiegel hinaus, und der Boden besteht lediglich aus Sand.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 73. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 73

No. 73April / Mai 2009

Von Julia Whitty, Carsten Jasner und Alex W. duPrel

Die Kalifornierin Julia Whitty, Jahrgang 1957, hat mehr als 50 Filme zu meeresbiologischen Themen produziert, für die sie vielfach ausgezeichnet worden ist. Sie schreibt für Harper’s, The New Yorker und andere bedeutende Zeitschriften.

Carsten Jasner hat Geschichte studiert, die Henri-Nannen-Schule absolviert, das Journalistenbüro Schön & Gut mitgegründet.

Alex W. du Prel, 1944-2017, stammte altem Luxemburger Adel, segelte zwölf Jahre durch die Südsee, verbrachte Jahre auf bewohnten wie unbewohnten Atollen, war Verwalter von Marlon Brandos Insel Tetiaroa und schuf 1978 den „Bora Bora Yacht Club“, legendärer Treffpunkt für Weltumsegler. 1991 gründete der US-Bürger Tahiti Pacifique, ein Monatsmagazin für polynesische Politik, Wirtschaft und Kultur (www.tahiti-paci fique.com). Du Prel lebte mit seiner Familie auf der Insel Moorea bei Tahiti.

Mehr Informationen
Vita Die Kalifornierin Julia Whitty, Jahrgang 1957, hat mehr als 50 Filme zu meeresbiologischen Themen produziert, für die sie vielfach ausgezeichnet worden ist. Sie schreibt für Harper’s, The New Yorker und andere bedeutende Zeitschriften.

Carsten Jasner hat Geschichte studiert, die Henri-Nannen-Schule absolviert, das Journalistenbüro Schön & Gut mitgegründet.

Alex W. du Prel, 1944-2017, stammte altem Luxemburger Adel, segelte zwölf Jahre durch die Südsee, verbrachte Jahre auf bewohnten wie unbewohnten Atollen, war Verwalter von Marlon Brandos Insel Tetiaroa und schuf 1978 den „Bora Bora Yacht Club“, legendärer Treffpunkt für Weltumsegler. 1991 gründete der US-Bürger Tahiti Pacifique, ein Monatsmagazin für polynesische Politik, Wirtschaft und Kultur (www.tahiti-paci fique.com). Du Prel lebte mit seiner Familie auf der Insel Moorea bei Tahiti.
Person Von Julia Whitty, Carsten Jasner und Alex W. duPrel
Vita Die Kalifornierin Julia Whitty, Jahrgang 1957, hat mehr als 50 Filme zu meeresbiologischen Themen produziert, für die sie vielfach ausgezeichnet worden ist. Sie schreibt für Harper’s, The New Yorker und andere bedeutende Zeitschriften.

Carsten Jasner hat Geschichte studiert, die Henri-Nannen-Schule absolviert, das Journalistenbüro Schön & Gut mitgegründet.

Alex W. du Prel, 1944-2017, stammte altem Luxemburger Adel, segelte zwölf Jahre durch die Südsee, verbrachte Jahre auf bewohnten wie unbewohnten Atollen, war Verwalter von Marlon Brandos Insel Tetiaroa und schuf 1978 den „Bora Bora Yacht Club“, legendärer Treffpunkt für Weltumsegler. 1991 gründete der US-Bürger Tahiti Pacifique, ein Monatsmagazin für polynesische Politik, Wirtschaft und Kultur (www.tahiti-paci fique.com). Du Prel lebte mit seiner Familie auf der Insel Moorea bei Tahiti.
Person Von Julia Whitty, Carsten Jasner und Alex W. duPrel