Botticelli

Mit seinem Bild der „Geburt der Venus“ bahnt der Florentiner Maler Sandro Botticelli dem Spätmittelalter den Weg in die Renaissance

Fast vollständig nackt.“ Sagt der Kunstexperte. Man will ja nicht gleich widersprechen. Schon gar nicht einem so kundigen Botticelli-Deuter wie dem in Leipzig lehrenden Kunstgeschichtsprofessor Frank Zöllner. Aber nackter geht eigentlich nicht. Wenn man das meterlange goldblonde Haupthaar, das die Frau vor die Scham hält, nicht als Kleidung bezeichnet, hat sie in Tat und Wahrheit nichts an.

Frau Venus auf See. Ein, zwei Knoten, mehr nicht. Dass sie es aufrecht stehend auf dem nach innen gekrümmten Bug ihres Muschelgefährts bis ans Gestade geschafft hat, sollte als erstrangige seemännische Leistung gelten. Zumal sie von weit draußen kommt, wo die alten Götter ein ziemlich wüstes Schlachtfest veranstaltet haben. Hat doch Kronos seinem Vater Uranos das Gemächt abgesäbelt, worauf das stark inseminierte Meer zu schäumen anfing und Aphrodite, vulgo Venus, aus dem hochprozentigen Urflan geboren wurde. Vielleicht ist ja „geboren“ nicht ganz richtig. Denn was aus der fluffigen Masse stieg, war gleich Frau mit allem Drum und Dran. Und so schön, dass ihr ein für alle Mal die unstrittige Kompetenz in Liebesdingen sicher war.

Ein Stoff für die Dichter. Die Homerischen Hymnen, Hesiod, Lukian, Lukrez, Ovid, Angelo Poliziano, der Hauslehrer der Medici, sie alle haben die mythische Herkunft der Liebe besungen und das arkadische Personal dazu kostümiert. Und jetzt, in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, waren es nicht mehr nur die Poeten. Sandro Botticelli, der eigentlich Alessandro Filipepi hieß, hat die schönste Venus gemalt. Sie balanciert, genau besehen, mit dem linken Fuß auf der Muschelspitze, mit dem anderen Bein stützt sie sich nur ein wenig mit dem großen Zeh ab. Was ungemein elegant aussieht. Und da der Maler das schlechterdings nirgends studieren konnte, hat er es sich sehr fein ausgedacht.

Aber weil das Kunststück immer etwas rätselhaft erschien, haben die Bilderzähler auch immer etwas Rätselhaftes dazuerfunden. So hat Jacob Burckhardt, der große Kulturhistoriker des 19. Jahrhunderts, ganz genau sehen wollen, wie die Venus auf einer Muschel über die Flut schwebt. „Hierfür“, schreibt er in seinem etwas trockenen Basler Historikerdeutsch, „studierte Sandro und brachte nicht bloß einen ganz schönen Akt, sondern auch einen höchst angenehmen, märchenhaften Eindruck hervor, der sich dem mythologischen unvermerkt substituiert.“

Nun ist es ja keineswegs so, dass die Dame mitsamt ihrer Muschel schweben würde. Und Flut ist auch nicht. Eher ähnelt die Fortbewegungsart einer Frühform des Stand-up-Surfens, wobei der Vortrieb ganz offensichtlich mundgeblasen ist. Der geflügelte Westwindgott Zephyr und die Nymphe Chloris in seinen Armen pusten die Göttin über das Wasser. Da die beiden laut Dienstbeschreibung als Spezialisten für tepore primaverile, also Frühlingsgefühle, gelten, muss es eine überaus angenehme Reise gewesen sein, zumal unbekleidet und freihändig und über viele Seemeilen hinweg als Körpersegel dem befreundeten Odem ausgesetzt. Erst ganz zum Schluss, schon die Orangenbäume auf der Zielinsel Zypern vor Augen und in Erwartung der Touristenmillionen, die ihr in den ­Florentiner Uffizien beim Anlanden zuschauen werden, legt die Göttin Arm und Hand über die Brust und greift mit der anderen ins wehende Haar und biegt sich einen kleinen Sichtschutz für unten zurecht. Aber da eilt auch schon eine Angestellte von der Marina her und hält einen roten Umhang, mit Gänseblümchen geschmückt, der Venus entgegen. Denn auf der Insel, wo sie alsbald die Liebesherr- oder weibschaft übernehmen soll, läuft man nicht nackt herum. Jedenfalls nicht dauernd.

Die Kunstwissenschaft, die kein Detail auslässt, weil sie sonst keine Wissenschaft wäre, hat noch etwas entdeckt. Ein seltsames, botanisch bedenkliches Gewächs im linken unteren Bildeck. Frank Zöllner, neben dem Bochumer Kunsthistoriker Ulrich Rehm der wohl beste Botticelli-Kenner derzeit, hat die Art als Erster beschrieben. Typha latifolia, im Deutschen als „Lampenputzer“ bekannt, ein Rohrkolbengras, das eigentlich dort nicht hingehört, weil es nur in und an Süßwassern gedeiht. Trotzdem hat sich der Maler für die Anpflanzung entschieden. Er muss es, da ist sich Zöllner sicher, der phallischen Fruchtstände zuliebe getan haben. Sie, die Rohrkolben, und „die Nacktheit der zentralen Figur machen aus der Ankunft der Venus ein Bild, dessen eindeutig erotischer Charakter von keinem Gemälde jener Zeit übertroffen wurde“.


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mare No. 115

No. 115April / Mai 2016

Von Hans-Joachim Müller

Hans-Joachim Müller, geboren 1947, lebt in Freiburg und Süditalien. Er studierte Philosophie und Kunstgeschichte, war Mitarbeiter im Feuilleton der Zeit, schreibt Kunstkritiken für Die Welt und ist Textchef des Kunstmagazins Blau. Wie die Venus segelt er am liebsten allein, ist ihr in den Buchten von Zypern aber noch nie begegnet.

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Vita Hans-Joachim Müller, geboren 1947, lebt in Freiburg und Süditalien. Er studierte Philosophie und Kunstgeschichte, war Mitarbeiter im Feuilleton der Zeit, schreibt Kunstkritiken für Die Welt und ist Textchef des Kunstmagazins Blau. Wie die Venus segelt er am liebsten allein, ist ihr in den Buchten von Zypern aber noch nie begegnet.
Person Von Hans-Joachim Müller
Vita Hans-Joachim Müller, geboren 1947, lebt in Freiburg und Süditalien. Er studierte Philosophie und Kunstgeschichte, war Mitarbeiter im Feuilleton der Zeit, schreibt Kunstkritiken für Die Welt und ist Textchef des Kunstmagazins Blau. Wie die Venus segelt er am liebsten allein, ist ihr in den Buchten von Zypern aber noch nie begegnet.
Person Von Hans-Joachim Müller