Bombenlast

1946 zündeten die Amerikaner eine Atombombe auf Bikini. Der Sprengsatz hat nicht nur ein einsames Atoll zerstört

Der Mann, der seine Leute heimführen will, hat sich verirrt. Das ist eine Leistung, hier in Majuro. Die Hauptstadt der Marshall-Inseln ist höchstens 400 Meter breit, aber dann hat das Meer einen guten Tag. „Hier irgendwo muss es sein“, sagt Jack Niedenthal. Er läuft über Gräber, auf denen Wäsche trocknet. Er umgeht Kinder, die zwischen Kreuzen und Gedenksteinen mit Plastikpistolen auf ihn zielen. Er weicht einem Fahrrad aus, das zwischen den Reihen kurvt. Schließlich kehrt er um, er ist am Ende des Friedhofs. Korallenbruch türmt sich über Stein, die Leichen sind längst fortgeschwemmt. Jede Woche fällt ein weiterer Toter ans Meer. Auch die Wälle aus Beton und Fässern und rostigen Autos können es nicht dauerhaft wehren.

Jack hebt einen Reistopf von einer Grabplatte und nimmt Kellen und Deckel vom Kreuz, sie verstellen die Sicht . „Naitari Tamashiro“ steht darauf, sie wurde 49 Jahre. Nicht weit liegt ihr Bruder. Billy Jakeo schaffte nicht die 30. „Schilddrüsenkrebs“, sagt Jack. Aus dem Haus gegenüber tritt eine Frau, sie greift sich das Geschirr. Er sieht ihr nach, freundlich, er verzeiht ihr die Entweihung. Platz ist rar auf den Marshalls.

Die beiden Toten sind die Antwort auf die Frage, warum er hier ist. Diese beiden und die Augen der stummen alten Frau, deren Kinder sie waren. Sechs weitere hat sie noch, eine Tochter ist Jacks Frau. In ihrem Rollstuhl sitzt die Alte am Rand des Friedhofs, reglos, sie kommt nicht mehr durch die schmalen Wege. „Ich bringe sie nach Hause“, sagt Jack.

Am 30. Juni 1946 explodierte auf dem Bikini-Atoll die erste amerikanische Atombombe in der Südsee. Die aus dem Flugzeug geklinkte „Able“ hatte eine Sprengkraft von 23 Kilotonnen, sie war der Beginn einer zwölfjährigen Testreihe. Die Bombe zerriss die Allianz zwischen der Sowjetunion und den USA endgültig, und sie markierte zugleich den Anfang eines wahnwitzigen Wettrüstens in beiden Lagern. Der Kalte Krieg begann mit einer Temperatur von mehreren tausend Grad.

Die Gegend war weit genug entfernt von den Vereinigten Staaten, und von der Bevölkerung war kein Protest zu erwarten. Rund 42000 Amerikaner befanden sich vor Ort, Wissenschaftler, Techniker, Militärs. Die Presse hatte exzellente Aufnahmen gefordert, und die Army präsentierte ihr „Baby“ wie ein stolzer Vater. Mehr als 600 Kameras waren rund um das Atoll stationiert. Einige wurden mittels unbemannter Flugzeuge sogar direkt in den Atompilz gelenkt. Auf Schiffen nahe dem Atoll harrten 5000 Ratten, Schweine und Ziegen darauf, „zum Wohl der Menschheit“ verglüht zu werden. „For the Good of Mankind“ lautete der Wahlspruch der Weltheilsarmee USA, ihr ruinöser Ehrgeiz erschütterte erstmals die Südsee.

In dem folgenden Jahrdutzend explodierten auf dem Bikini-Atoll, das zu den Marshall-Inseln gehört, 23 Bomben. Insgesamt zündeten auf den Eilanden des – grausiger Doppelsinn – weit versprengten Südseestaats 67 Nuklearladungen. Laut US-Verteidigungsministerium entspricht ihre summierte Zerstörungskraft rund 7000 Hiroshima-Bomben. Anders gesagt: Theoretisch sind in dieser Zeit 1,6 Hiroshima-Bomben auf die Marshall-Inseln gefallen – täglich.

Die Flagge der Bikinianer zeigt drei schwarze Sterne. Sie sind Erinnerung an jene Inseln, die während der Explosion der 15 Megatonnen starken Wasserstoffbombe „Bravo“ Anfang 1954 pulverisiert wurden. Bereits 1952 verlor das nahe Eniwetok-Atoll eine Insel durch eine H-Bombe, andere Inseln wurden durch fehlgeschlagene Tests mit Plutonium verseucht. Sie sind auf Jahrtausende unbewohnbar.

Bis heute gibt es keine genauen Zahlen über Strahlenopfer. Die USA versiegeln eigene Studien mit dem Hinweis auf militärische Notwendigkeiten. Daten unabhängiger Institutionen sind nur aufwendig zu erheben und deshalb rar. Schätzungen der IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges) gehen von mehreren tausend Krebsfällen allein für die Marshall-Inseln aus. Sie reihen sich ein in die rund 430000 tödlichen Krebserkrankungen, die laut IPPNW bis zum Ende des 20. Jahrhunderts durch die weltweiten Atomwaffentests verursacht wurden.

Rund eine Milliarde Dollar zahlten die USA bis heute an die Marshall-Inseln. Die Opfer nahmen es, viel mehr blieb ihnen nicht übrig. Außerdem entsprach es der Tradition. „Wir haben gelernt, unsere Tränen mit den Dollarscheinen der Amerikaner zu trocknen“, sagen sie.


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mare No. 54

No. 54Februar / März 2006

Von Maik Brandenburg und Tim Georgeson

Für mare-Autor Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, war es die erste Reise in die Südsee. Unfassbar für ihn, dass Teile dieses Paradieses mutwillig zerstört wurden

Der australische Fotograf Tim Georgeson, geboren 1969, arbeitet für die Pariser Agentur Ashley Woods Promotion.

Die Reportage im Auftrag von mare entstand als Teil eines internationalen Projekts, das unter dem Titel „Insecurity“ auf die Folgen nuklearer Entwicklung und Erprobung zeigen soll – von Hiroshima über Tschernobyl und den Untergang des russischen Atom-U-Boots „Kursk“ bis heute. Eine erste Ausstellung der Arbeiten ist für 2007 im Genfer Internationalen Museum des Roten Kreuzes geplant.

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Der australische Fotograf Tim Georgeson, geboren 1969, arbeitet für die Pariser Agentur Ashley Woods Promotion.

Die Reportage im Auftrag von mare entstand als Teil eines internationalen Projekts, das unter dem Titel „Insecurity“ auf die Folgen nuklearer Entwicklung und Erprobung zeigen soll – von Hiroshima über Tschernobyl und den Untergang des russischen Atom-U-Boots „Kursk“ bis heute. Eine erste Ausstellung der Arbeiten ist für 2007 im Genfer Internationalen Museum des Roten Kreuzes geplant.
Person Von Maik Brandenburg und Tim Georgeson
Vita Für mare-Autor Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, war es die erste Reise in die Südsee. Unfassbar für ihn, dass Teile dieses Paradieses mutwillig zerstört wurden

Der australische Fotograf Tim Georgeson, geboren 1969, arbeitet für die Pariser Agentur Ashley Woods Promotion.

Die Reportage im Auftrag von mare entstand als Teil eines internationalen Projekts, das unter dem Titel „Insecurity“ auf die Folgen nuklearer Entwicklung und Erprobung zeigen soll – von Hiroshima über Tschernobyl und den Untergang des russischen Atom-U-Boots „Kursk“ bis heute. Eine erste Ausstellung der Arbeiten ist für 2007 im Genfer Internationalen Museum des Roten Kreuzes geplant.
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