Im Hafen von Liverpool herrscht reges Treiben. Zwei- und Dreimaster liegen an den Kais. Schauerleute hasten über schwankende Planken, auf ihren Rücken zentnerschwere Lasten. Vormänner brüllen Anweisungen, Seilwinden von Lastkränen quietschen, prall gefüllte Säcke verschwinden in Schiffsbäuchen. Am Kai stehen einige gut gekleidete Männer und überwachen das Geschehen, unter ihnen der Kaufmann und Reeder William Davenport. Die Fracht seiner Schiffe unterscheidet sich kaum von der der anderen: Waffen, Stoffballen und tonnenweise bunte Glasperlen. In vier Wochen, so Gott will, werden die Schiffe ihr Ziel erreichen: Afrikas Westküste.
Szenen wie diese dürften sich vor 250 Jahren in Liverpool abgespielt haben. Die Stadt in Mittelengland war einer der wichtigsten Umschlagplätze im globalen Handel – und William Davenport einer der bedeutendsten Händler. Der Großteil seiner Korrespondenz und Geschäftsbücher ist erhalten, darum wissen wir, woher er seine bunten Glasperlen bezog, wohin sie gingen und welchem Zweck sie dienten. Über Zwischenhändler wie die Bead Company in London kaufte er sie aus Venedig, Schlesien und Böhmen und verschiffte sie nach Afrika. Dort tauschte er sie ein gegen Gold, Elfenbein und Sklaven.
Blaue, grüne, rote und mehrfarbige Glasperlen dienten in Afrika jahrhundertelang als Tausch- und Zahlungsmittel, lange bevor Europäer den Kontinent kolonialisierten. Ebenso lange wurden dort Menschen gejagt, versklavt und verkauft. Es gehört zur bitteren Widersprüchlichkeit dieser Währung, dass sie einerseits Ausdruck von Kultur, Handwerkskunst und Freude am Schönen ist, andererseits mit der Sklaverei abscheuliche Grausamkeiten, Folter und Mord finanzierte, eines der größten Verbrechen der Menschheit.
Als die Portugiesen Mitte des 15. Jahrhunderts Afrikas Westküste entdeckten, fanden sie Sklavenmärkte vor, auf denen mit Glasperlen bezahlt wurde. Nach der Entdeckung Amerikas weiteten sie das Geschäft gemeinsam mit Holländern, Franzosen, Spaniern und Engländern zu einem transatlantischen Wirtschaftssystem aus. Sie verschleppten 400 Jahre lang Menschen, im Gegenzug überschütteten sie Afrika mit Perlen, auch Sklavenperlen genannt.
Wer produzierte sie? Seit wann galten sie als Zahlungsmittel? Welchen Wert hatten sie? Sicher ist, dass in Mesopotamien, in der Levante und in Ägypten schon vor mehr als 3000 Jahren Glasperlen hergestellt und gehandelt wurden. Seit dem neunten Jahrhundert unserer Zeitrechnung transportierten arabische Händler Glasperlen, neben weiteren Tauschmitteln wie Salz und Kaurimuscheln, in Karawanen durch die Sahara nach Westafrika, vor allem ins heutige Gebiet von Ghana, Mali, Nigeria und Kongo. Dort tauschten sie Perlen gegen Gold und Sklaven.
Diese wurden in Kriegen und Überfällen von Stammesführern erbeutet, wurden gestellt von tributpflichtigen Stämmen oder verschuldeten Familien. Weil Grund und Boden in Westafrika traditionell der Gemeinschaft gehörten, stellten Sklaven eine der wenigen gängigen Formen von Privateigentum dar.
Glasperlen funktionierten als Zahlungsmittel, weil sie klein, transportabel, haltbar, einigermaßen selten und begehrt waren. Doch schwankte ihr Wert enorm; nicht nur weil die verfügbare Menge variierte, auch weil sie vielfältige Funktionen erfüllten. Als Schmuck etwa bedienten sie wechselnde Moden. Ganze Expeditionen, sowohl von Arabern als auch von Europäern, scheiterten, weil sie Perlen in aktuell ungewünschten Farben und Formen mitführten. Zudem schrieb man dem bunten Glas magische Bedeutungen zu. Das gilt vor allem für die rätselhaften Aggriperlen.
Sie wurden von Reisenden in verschiedensten Formen und Farben beschrieben und stammten aus phönizischer, ägyptischer oder venezianischer Produktion. Gemeinsam ist den Aggris, dass sie zufällig gefunden wurden, als Grabbeigabe oder verscharrter Schatz. Der Stamm der Ewe in Togo glaubte, die Regenbogenschlange, ein mythisches Wesen, habe den Menschen die Aggriperlen geschenkt. Die Ashanti in Ghana meinten, die Perlen wüchsen im Boden. Die Baule an der Elfenbeinküste waren überzeugt, es mit dem Erbe von „Himmelssöhnen“ zu tun zu haben.
Die Perlen hingen an Ketten und Armbändern, schmückten Kleidung, Masken, Amulette. Sie zeigten Vermögen und sozialen Status einer Person an. Hatten wichtige Personen die Perlen als Schmuck getragen, stieg deren Wert. Bei Hochzeiten reichten Eltern sie feierlich an die nächste Generation weiter.
Im Lauf des 14. Jahrhunderts wurden neben den Aggriperlen auch solche aus neuerer Produktion immer beliebter. Sie stammten von Murano, einer kleinen Insel bei Venedig. In der aufstrebenden Republik des oberitalienischen Stadtstaats konzentrierte sich, nachdem Byzanz untergegangen war, die Glasmacherkunst des Mittelmeerraums. 1291 ließ der venezianische Doge alle Glasöfen auf die benachbarte Insel Murano verfrachten, um die Gefahr eines Großbrands aus der Stadt zu verbannen. Zugleich sicherte er damit die Geheimnisse der Glasherstellung.
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Kunstvoll fabrizierte Glasperlen als Zahlungsmittel – für den Berliner Autor Carsten Jasner, klang das nach einem schönen Thema. Bis er erkannte, wie viel Blut an den bunten Perlen klebt.
Vita | Kunstvoll fabrizierte Glasperlen als Zahlungsmittel – für den Berliner Autor Carsten Jasner, klang das nach einem schönen Thema. Bis er erkannte, wie viel Blut an den bunten Perlen klebt. |
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Person | Von Carsten Jasner |
Vita | Kunstvoll fabrizierte Glasperlen als Zahlungsmittel – für den Berliner Autor Carsten Jasner, klang das nach einem schönen Thema. Bis er erkannte, wie viel Blut an den bunten Perlen klebt. |
Person | Von Carsten Jasner |