Bewegende Geschichten

Ein unbekannter kanadischer Reeder schreibt Schifffahrtsgeschichte: Samuel Cunard bewirbt sich in den 1830er-Jahren in London für eine Postschifflinie zwischen Großbritannien und Amerika. Fortan ist er der ungekrönte Herrscher des Nordatlantiks

Am dritten Tag kommt der Sturm, das hat Charles Dickens gerade noch gefehlt. Er muss sich noch mit seiner Koje, dieser „unpraktischen und nutzlosen Schachtel“, arrangieren. Mit der Holzpritsche, auf der er schläft, „eher Sarg als Bett“. Auch mit der Kuh und den Hühnern auf dem Schiff. Und das als Passagier der ersten Klasse. Jetzt wird Charles Dickens auch noch seekrank. Tagelang wütet der Sturm im Nordatlantik, die meiste Zeit so heftig, dass das Grau des Meeres mit dem des Himmels verschwimmt und der fehlende Horizont dem Seekranken jede Orientierung nimmt. Dickens hilft nicht einmal mehr der Brandy.

Es ist Januar 1842, als Dickens von Liverpool nach Amerika reist. Im Winter über den Atlantik – mit der „Britannia“ geht das, hieß es. Und es geht ja auch, nur nicht so bequem, wie es sich Dickens vorgestellt hat.

Seit zwei Jahren pendelt die „Britannia“ damals als Postschiff Ihrer Majestät von der Alten in die Neue Welt. Sie ist das stattlichste Schiff auf dem Atlantik, ein Zweimaster, 65 Meter lang, 440 PS stark. Der Wind und zwei Schaufelräder bringen sie in etwa zwölf Tagen auf die andere Seite. Bei jeder Abfahrt in Liverpool kommen Schaulustige ans Merseyufer, als ahnten sie, dass dieses Schiff eine Tradition begründen wird, die in der Seefahrt einzigartig bleibt.

Heute heißt das Schiff nicht „Britannia“, sondern „Queen Mary 2“. Lebende Kühe sind nicht an Bord, dafür 20 000 Liter Milch und 9,8 Tonnen Rindfleisch je Überfahrt. Als Dessert gibt es nicht „modrig schmeckende Orangen“ (Dickens), sondern Sacherparfait an Erdbeerconfit, gereicht im Edelrestaurant „Britannia“. So breit wie Dickens’ Bett war, sind heute die Bücherregale in der Bibliothek des Luxusliners. Und da es auch an Brandy nicht mangelt, hätte es Dickens sicher gefallen.

Die „Britannia“ war das erste Schiff der Reederei Cunard. Die „Queen Mary 2“ ist ihr erfolgreichstes. Zwischen beiden liegen 175 Jahre Unternehmensgeschichte, die so eng verwoben sind mit der Geschichte Großbritanniens, ja der Welt, dass sie an einigen Stellen wirken wie ein Vergrößerungsglas auf die Weltläufe. Blickt man hindurch, sieht man, wie ein junger Deutscher 1198 Menschen tötet und damit den Lauf eines Weltkriegs ändert. Wie ein britischer Kapitän sein Leben riskiert, um 705 andere zu retten. Wie 25 Millionen Menschen der amerikanischen Verheißung folgen und Hunderttausende dem Ruf des Krieges. Die Geschichte der Cunard Line ist selbst Geschichte.

All das ahnt Samuel Cunard nicht, dieser Kanadier mit besonderem Verhältnis zur britischen Krone, mit dem alles beginnt. Er hat nur einen Riecher für ein Geschäft. Cunard lebt in den 1830er-Jahren in Halifax, heute Kanada, damals britische Kolonie. Seine Eltern, der Krone treu ergeben, waren aus Pennsylvania dorthin gezogen, als die USA unabhängig wurden.

Cunard leitet ein kleines Schifffahrtsunternehmen. Ein Schiff liegt damals so lange im Hafen, bis sich genügend Passagiere und Fracht einfinden. Ein Brief von New York nach London braucht so manchmal viele Wochen. Internationale Politik, Geschäfte, kultureller Austausch – alles ist langsam und abhängig von den Schiffen auf dem Atlantik. Und die fahren, wann sie wollen.

Als die britische Regierung einen regelmäßigen Postverkehr zwischen Amerika und Großbritannien einrichten will, alle zwei Wochen, streng nach Fahrplan, quasi eine Eisenbahn auf dem Wasser, bewirbt sich Cunard. Er bekommt den Zuschlag und zieht nach London. Vier Schiffe lässt er bauen, darunter die „Britannia“.

Am 4. Juli 1840 bricht sie zur ersten Fahrt über „Cunards Teich“ auf, wie der Atlantik bald genannt wird. Wenig später wird sie auch Charles Dickens nach Amerika bringen. Angenehm sind die Reisen nicht, auch wenn die See ruhig ist. In erster Linie geht es um die Post. Aber das ändert sich. Allmählich wird deutlich, welche Goldgrube Cunard aufgetan hat. Der Rest des 19. Jahrhunderts sieht einen Ansturm europäischer Emigranten, Abenteurer im Goldrausch, Juden auf der Flucht vor dem Antisemitismus, Missionare, Bauern, Geschäftsleute, aus allen Teilen Europas strömen sie in die Häfen. So unterschiedlich ihre Mission und ihre Herkunft ist, eines haben sie gemeinsam: Sie brauchen ein Schiff, das sie nach Amerika bringt.


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mare No. 111

No. 111August / September 2015

Von Bastian Berbner

Bastian Berbner, Jahrgang 1985, Journalist in Hamburg, stieß auf ein Detail, das zeigt, wie sinnlos Verbote sein können. In den 1920er-Jahren herrschte in den USA Prohibition, aber für ein paar Dollar konnte man mit dem Cunard-Schiff Mauretania hinausfahren, zwölf Meilen vor die Küste, und sich betrinken, ganz legal in internationalen Gewässern.

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Vita Bastian Berbner, Jahrgang 1985, Journalist in Hamburg, stieß auf ein Detail, das zeigt, wie sinnlos Verbote sein können. In den 1920er-Jahren herrschte in den USA Prohibition, aber für ein paar Dollar konnte man mit dem Cunard-Schiff Mauretania hinausfahren, zwölf Meilen vor die Küste, und sich betrinken, ganz legal in internationalen Gewässern.
Person Von Bastian Berbner
Vita Bastian Berbner, Jahrgang 1985, Journalist in Hamburg, stieß auf ein Detail, das zeigt, wie sinnlos Verbote sein können. In den 1920er-Jahren herrschte in den USA Prohibition, aber für ein paar Dollar konnte man mit dem Cunard-Schiff Mauretania hinausfahren, zwölf Meilen vor die Küste, und sich betrinken, ganz legal in internationalen Gewässern.
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