Beinahe Europa

In großem Stil bietet die international nicht anerkannte Türkische Republik Nordzypern jungen Afrikanern günstige Studienplätze an. Viele ahnen nicht, dass Ihr Traum von der Freizügigkeit des Reisens in Europas jäh an den Zäunen der geteilten Insel endet

Erst als ich von Kenia nach Zypern zog, begann ich wirklich zu verstehen, was das Wort „Zwischenraum“ eigentlich bedeutet. Als Studentin in der Türkischen Republik Nordzypern kam ich in Kontakt mit den täglichen Kämpfen der afrikanischen Einwanderer in diesem seltsamen no-man’s- land, das durch die blauen Wasser des Mittelmeers vom Rest der Welt isoliert und durch die Grüne Linie von Europa getrennt ist.

Es war ein kalter Sonntagmorgen, als ich meine Familie am internationalen Flughafen von Nairobi zum Abschied umarmte und küsste. In wenigen Wochen würde meine Schwester ihr Kind zur Welt bringen. Sie stand dort etwas schwerfällig in den Armen ihres Mannes, des werdenden Vaters; die Konturen ihres Körpers wohlgerundet und sanft anschwellend. Einen Augenblick lang wünschte ich mir, ich könnte ein wenig länger bleiben, um ihr mit dem Baby zu helfen. Mutterschaft ist in Kenia ein bisschen so etwas wie eine Familienangelegenheit, vor allem, wenn das erste Kind erwartet wird. Ich beobachtete die Augen meiner Mutter: Hätte sie geblinzelt, wären die Tränen geflossen.

Stattdessen starrte sie in die Ferne. Ich löste meine Hand aus ihrem Klammergriff und eilte zum Terminal. Ich war 31 Jahre alt und auf dem Weg nach Europa. Zumindest glaubte ich das damals. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nie länger als zwei Monate am Stück außerhalb Kenias gelebt. Ich wuchs in einer gutbürgerlichen Familie in einer Kleinstadt auf; meine Mutter arbeitete hart, mein Vater diente in der Armee. Vor etwa zehn Jahren waren wir nach Nairobi gezogen. Obwohl ich Nairobi aufregend und schön fand, war mir die Stadt zu voll und zu teuer. Ich arbeitete als Pressesprecherin für eine örtliche NGO, aber ich war nicht wirklich glücklich. Ich hatte immer davon geträumt, Schriftstellerin zu werden, Geschichten zu erzählen, zu reisen. Nach fünf Jahren, in denen ich mich nicht erfüllt gefühlt hatte, beschloss ich, zu kündigen. Damals, 2014, war ich zuversichtlich, dass ich als freiberufliche Journalistin würde arbeiten können. Bald sah ich ein, dass zehn Dollar für einen 1000-Wörter-Artikel nicht ausreichen würden, um davon meinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Wie viele Leute meiner Generation fand ich das Leben in Kenia herausfordernd: wegen der instabilen Wirtschaftslage, der Korruption und der Sicherheitsprobleme. Kenia ist in den vergangenen Jahren stark von islamistischem Terrorismus betroffen gewesen. Die Finanzkrise von 2008 hat die Wirtschaft noch weiter lahmgelegt, und wie Millionen andere Menschen auf der Welt verloren auch zahlreiche Kenianer ihre Jobs. Viele junge Leute sahen sich gezwungen, ihr Glück im Ausland zu suchen. Im September 2017 packte auch ich meine Taschen und machte mich auf den Weg nach Zypern, um mich unserer jüngsten Schwester Sharon Kendi anzuschließen, die sechs Monate zuvor zum Studium dorthin gegangen war.

Europa erschien mir als das ultimative Ziel. In meiner Vorstellung war der Kontinent voller Wolkenkratzer und Schlösser, reich an moderner und antiker Architektur. Länder mit effizienten, sicheren Transportsystemen. Aber vor allem auch Länder voller Möglichkeiten für Migranten.

Aus dem Englischen von Jaleh Ojan


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 143. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 143

mare No. 143Dezember 2020 / Januar 2021

Von Maureen Kajuju Murori und Anne Ackermann

Die kenianische Autorin Maureen Kajuju Murori, Jahrgang 1986, lebt derzeit in Nordzypern. Dort absolviert sie einen Masterstudiengang in English Language Teaching. Außerdem schreibt sie für verschiedene englischsprachige Medien über Reisen, Kultur sowie Wirtschafts- und Frauenthemen.
Anne Ackermann, Jahrgang 1980, lebt als freie Fotografin in Otterstadt. Der Exkurs in die afrikanische Diaspora Nordzyperns war für sie beinahe wie eine Reise in ihre frühere Wahlheimat Uganda, wo sie sechs Jahre verbracht hatte. In der nordzypriotischen Stadt Kyrenia (Girne) traf sie auf Sunday aus Uganda (Seite 113), mit dem sie das gleiche „Heimweh“ und gemeinsame Freunde und Orte verband.
Die Recherche wurde unterstützt von dem Projekt #blueborder des europäischen Onlinemagazins Cafébabel.

Mehr Informationen
Vita Die kenianische Autorin Maureen Kajuju Murori, Jahrgang 1986, lebt derzeit in Nordzypern. Dort absolviert sie einen Masterstudiengang in English Language Teaching. Außerdem schreibt sie für verschiedene englischsprachige Medien über Reisen, Kultur sowie Wirtschafts- und Frauenthemen.
Anne Ackermann, Jahrgang 1980, lebt als freie Fotografin in Otterstadt. Der Exkurs in die afrikanische Diaspora Nordzyperns war für sie beinahe wie eine Reise in ihre frühere Wahlheimat Uganda, wo sie sechs Jahre verbracht hatte. In der nordzypriotischen Stadt Kyrenia (Girne) traf sie auf Sunday aus Uganda (Seite 113), mit dem sie das gleiche „Heimweh“ und gemeinsame Freunde und Orte verband.
Die Recherche wurde unterstützt von dem Projekt #blueborder des europäischen Onlinemagazins Cafébabel.
Person Von Maureen Kajuju Murori und Anne Ackermann
Vita Die kenianische Autorin Maureen Kajuju Murori, Jahrgang 1986, lebt derzeit in Nordzypern. Dort absolviert sie einen Masterstudiengang in English Language Teaching. Außerdem schreibt sie für verschiedene englischsprachige Medien über Reisen, Kultur sowie Wirtschafts- und Frauenthemen.
Anne Ackermann, Jahrgang 1980, lebt als freie Fotografin in Otterstadt. Der Exkurs in die afrikanische Diaspora Nordzyperns war für sie beinahe wie eine Reise in ihre frühere Wahlheimat Uganda, wo sie sechs Jahre verbracht hatte. In der nordzypriotischen Stadt Kyrenia (Girne) traf sie auf Sunday aus Uganda (Seite 113), mit dem sie das gleiche „Heimweh“ und gemeinsame Freunde und Orte verband.
Die Recherche wurde unterstützt von dem Projekt #blueborder des europäischen Onlinemagazins Cafébabel.
Person Von Maureen Kajuju Murori und Anne Ackermann