Bei den Helden zu Haus

Die Hütten der Südpolfahrer Scott und Shackleton wirken bis heute, als könnten die Abenteurer jeden Moment hereinkommen. Die Kälte hat ihre Siebensachen auf ewig bewahrt

Als der Suchtrupp am 12. November 1912 das schneebedeckte Zelt erreicht, leben Robert Falcon Scott, Henry Bowers und Edward Wilson schon seit rund acht Monaten nicht mehr. Der Polarforscher Scott liegt in der Mitte zwischen den anderen beiden Männern, im offenen Schlafsack, Tabak und ein Teebeutel neben seinem Kopf, seine linke Hand auf der Schulter seines Freundes Wilson. Als der kalte Tod kam, hat der Expeditionsleiter Scott ein letztes Mal Kontakt gesucht.

Was in den letzten Tagen und Wochen im Leben von Robert Falcon Scott passiert ist, erfährt der Suchtrupp aus dem Tagebuch des Kapitäns. Die Aufzeichnungen sind ein erschütterndes Dokument des Scheiterns und Sterbens. Scott berichtet, wie er und die vier Männer, die mit ihm am Südpol waren, sich auf dem Marsch zurück mit wachsender Verzweiflung gegen Hunger und Kälte wehren, wie Kilometer für Kilometer, Schritt für Schritt ihre Kräfte weichen, ausgelaugt ihrem Ende entgegentaumeln, kaum noch in der Lage, die Schlitten zu ziehen. Sie wissen, dass sie Übermenschliches geleistet und doch den Wettlauf zum Pol verloren haben.

Edgar Evans ist der Erste, den die völlige Entkräftung zu Boden zwingt. Seine Hand ist verletzt und eitert, er kann nur noch kriechen und stirbt kurz darauf. Der zweite Mann, der für das Polabenteuer bitter bezahlen muss, ist Lawrence Oates. Er weiß, dass ihn seine abgestorbenen Füße nicht mehr weit tragen werden, dass er zu einer Belastung für die anderen geworden ist, deren Überlebenschancen mindert. Oates verlässt des Nachts das Zelt mit der Bemerkung, er werde wohl eine Weile draußen bleiben, und verschwindet für immer in der Eishölle. Scott, Bowers und Wilson schleppen sich weiter – doch auch sie werden nie wieder etwas anderes sehen als Schneegestöber und einen nirgendwo endenden Horizont.

Tage später tobt um ihr Zelt herum ein Sturm, und das nächste Depot mit Lebensmitteln ist eigentlich nur 20 Kilometer weit entfernt. Doch die drei Männer machen keinen Versuch mehr, es zu erreichen. Am Samstag, dem 23. März 1912, schreibt Scott, dass sie keinen Brennstoff und nur noch für ein oder zwei Tage Nahrung haben. „Das Ende ist nahe.“ Aber es dauert noch über eine Woche, in der Scotts Lebensgeister und die seiner Schicksalsgenossen nicht weichen wollen.

Der letzte datierte Eintrag stammt vom Freitag, dem 29. März. „Ich glaube nicht, dass wir jetzt irgendwie auf Besserung hoffen können. Aber wir werden bis zum Ende aushalten; freilich werden wir schwächer, und der Tod kann nicht mehr fern sein. Es ist ein Jammer, aber ich glaube nicht, dass ich noch weiter schreiben kann.“ Danach folgt nur noch ein letzter Satz ohne Angabe des Datums: „For God’s sake look after our people“, um Himmels willen, sorgt für unsere Hinterbliebenen.

Robert Falcon Scott ist heute Legende, ein tragischer Entdecker, der alles riskierte und alles verlor. Der Norweger Roald Amundsen hatte rund einen Monat vor ihm den Südpol erreicht, obwohl Amundsen, bittere Ironie dieser Geschichte, eigentlich lieber den Nordpol erobert hätte und in seinen Aufzeichnungen schreibt: „Ich kann nicht sagen, … dass ich da vor dem Ziel meines Lebens stand. … Der Nordpol selbst hatte es mir von Kindesbeinen an angetan, und nun befand ich mich am Südpol! Kann man sich etwas Entgegengesetzteres denken?“ Seinen zweiten und eigentlichen Konkurrenten um Ruhm und Ehre, Sir Ernest Henry Shackleton, hatte Scott hingegen geschlagen. Doch was ist ein Triumph, ein Sieg wert, den man nicht auskosten, nicht feiern kann?

Shackleton, der andere große britische Polarforscher seiner Zeit, war ein paar Jahre zuvor bis auf 180 Kilometer an den Pol herangekommen, doch dann wegen schwindender Kräfte umgekehrt. „Besser ein lebender Esel als ein toter Löwe“, begründete er die bedeutendste Entscheidung seines Lebens. Die beiden Abenteurer sind durch ihren Entdeckergeist und Mut in die Geschichtsbücher eingegangen, doch die Erinnerung an sie könnte kaum unterschiedlicher sein: Über Shackletons Führungskunst werden heute Bücher geschrieben. Scott kommt weniger gut weg. Seine Fähigkeiten werden hinterfragt, und im kritischsten aller Werke, „Scott und Amundsen“ von Roland Huntford, sucht der britische Eroberer sogar den Tod im Zelt, „um aus der Niederlage noch eine Art Sieg zu machen“. Scott habe sich durch eigene Unfähigkeit ins Unglück gestürzt und das Leben seiner Gefährten geopfert, resümiert Huntford.

Ein vernichtendes Urteil, und wer Scotts Tagebuch liest, mag es als hartherzig empfinden. Sicher ist aus heutiger Sicht, dass Scott falsche Entscheidungen traf und manchmal weniger von Vernunft und mehr von seinem Glauben an britischen Sportsgeist und die Größe des Empires vorwärtsgetrieben wurde. Seine teuren Motorschlitten versagten, für die sibirischen Ponys war das Leben in der Antarktis zu hart. Er schickte die Schlittenhunde zurück, lange bevor seine Expedition den Pol erreicht hatte. Er hielt nichts von der Fortbewegung auf Skiern. Er kalkulierte die Vorräte in den Depots zu knapp. Er wählte die falsche Bekleidung, Stoff statt Fell. Amundsen machte alles anders, orientierte sich an den Überlebenstechniken der Inuit – und kam dadurch schneller und sicherer im Eis voran.

Als Scott und seine Begleiter starben, waren sie noch über 150 Kilometer von ihrem Basislager am Kap Evans entfernt. Die für die Expedition (1910 bis 1912) als Ausgangspunkt errichtete Holzhütte existiert noch heute, und dem Besucher erscheint dieser Ort, als sei er gerade eben erst verlassen worden, als sei die Zeit einfach stehen geblieben. Wenn man sich ein wenig Rost und Zerfall wegdenkt, die dem Gebäude und den Gegenständen, die es beherbergt, ehrfurchtsvolle Patina verleihen, kann man sich ohne Anstrengungen vorstellen, dass gleich einige englische Polarfahrer durch die Tür hereinstapfen, zurück von einem Ausflug in die schreckliche Kälte da draußen.


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mare No. 60

No. 60Februar / März 2007

Von Asmus Heß und Josef Hoflehner

Autor Asmus Heß, Jahrgang 1968, ließ sich von den Tagebüchern der Polarfahrer ins ewige Eis entführen.

Der österreichische Fotograf Josef Hoflehner, geboren 1951, kampierte im antarktischen Sommer 2001/2002 draußen vor der Hütte der Polarforscher. „Drinnen“, fand er, „war es erstaunlich dunkel. Die rauchgeschwärzten Wände verschluckten alles Licht. Während draußen die Mittsommersonne schien, mussten wir drinnen mit Taschenlampen nach unserem Bildausschnitt suchen. Die Aufnahmen selbst entstanden alle ohne künstliches Licht in Langzeitbelichtung.“

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Vita Autor Asmus Heß, Jahrgang 1968, ließ sich von den Tagebüchern der Polarfahrer ins ewige Eis entführen.

Der österreichische Fotograf Josef Hoflehner, geboren 1951, kampierte im antarktischen Sommer 2001/2002 draußen vor der Hütte der Polarforscher. „Drinnen“, fand er, „war es erstaunlich dunkel. Die rauchgeschwärzten Wände verschluckten alles Licht. Während draußen die Mittsommersonne schien, mussten wir drinnen mit Taschenlampen nach unserem Bildausschnitt suchen. Die Aufnahmen selbst entstanden alle ohne künstliches Licht in Langzeitbelichtung.“
Person Von Asmus Heß und Josef Hoflehner
Vita Autor Asmus Heß, Jahrgang 1968, ließ sich von den Tagebüchern der Polarfahrer ins ewige Eis entführen.

Der österreichische Fotograf Josef Hoflehner, geboren 1951, kampierte im antarktischen Sommer 2001/2002 draußen vor der Hütte der Polarforscher. „Drinnen“, fand er, „war es erstaunlich dunkel. Die rauchgeschwärzten Wände verschluckten alles Licht. Während draußen die Mittsommersonne schien, mussten wir drinnen mit Taschenlampen nach unserem Bildausschnitt suchen. Die Aufnahmen selbst entstanden alle ohne künstliches Licht in Langzeitbelichtung.“
Person Von Asmus Heß und Josef Hoflehner