Austern für Einsame

Das Restaurant im Keller des New Yorker Hauptbahnhofs verwöhnt seine rastlose Kundschaft mit Hummerkeksen

Der New Yorker Journalist Joseph Mitchell schrieb über Menschen, die auf traurige oder komische Weise mit der Welt nicht mithielten. Er traf Frauen mit langen Bärten, und er unterhielt sich mit Pennern und Träumern, die im Geist Tausende von Buchseiten schrieben, ohne je eine Zeile zu Papier zu bringen.

Irgendwann zog sich Mitchell in die Schreibstube zurück, und seine Kollegen warteten erst geduldig, dann besorgt auf seine Porträts und Reportagen. Es wurde immer rätselhafter, was Mitchell jeden Tag in seinem Büro trieb. 30 Jahre lang, bis er starb, erschien keine einzige Zeile mehr von ihm.

Der Hausmeister schwor, nach Feierabend Dutzende von mit Maschine beschriebenen Seiten aus Mitchells Papierkorb geleert zu haben, Kollegen beteuer- ten, er habe nie aufgehört zu recherchieren. Doch je schneller sich die Welt der Medien drehte, desto einsamer wurden seine Nachforschungen. Kurz vor seinem Tod hat er es selbst einmal gesagt. „Früher sind wir Autoren vom ,New Yorker‘ immer zusammen zum Mittagessen gegangen und haben uns unsere Geschichten erzählt. Heute laufe ich jeden Tag alleine in die ,Grand Central Oyster Bar‘ zum Lunch.“

Sein Stammlokal liegt im Keller des großen New Yorker Bahnhofs, dieser mit weißem Marmor ausgelegten Kathedrale für Reisende. Mitchell saß nicht an den mit rotweißen Decken überzogenen Tischen der „Oyster Bar“, wo mittags Geschäfte abgeschlossen und abends vor dem Nachhauseweg Affären begonnen werden, sondern an den Tresen, wo diejenigen essen, die niemanden haben, mit dem sie essen.

Die Fremden sitzen nebeneinander, nah genug, dass die Ellenbogen sich beim Suppelöffeln berühren. Bevor sie Platz nehmen, nicken sie sich gegenseitig zu. „Ist das Muschelbisque heute cremig?“, fragt ein Banker in Nadelstreifen eine dicke schwarze Sekretärin.

Eine Hundertjährige mit roten Nägeln liest zum Krabbencocktail die „New York Times“, klein gefaltet wie ein Taschenbuch, und der junge Mann neben ihr hat sein Skateboard auf den Oberschenkeln geparkt und hält sich ein winziges Radio ans Ohr, mit dem er ein Baseballspiel verfolgt, während er einarmig vom Tunfischsandwich abbeißt. Sie berühren sich kurz, als sie blind nach dem Wasserglas greifen, das Selma nach jedem Schluck mit Eiswürfeln füllt. „Oh, I am sorry“, sagt die alte Dame. „No, no, I am sorry“, sagt der Junge, und Selma bringt ungefragt ein frisches Glas, und dann sind sie wieder still.

Ein ehemaliger Buchverleger nippt am Martini und liest im ersten, jetzt längst vergriffenen Buch aus seinem eigenen, längst eingestellten Verlag, einer Geschichte über den Hochhausbau in New York. Als Selma ihm das halbe Dutzend Kumamoto-Austern bringt, nennt sie ihn „Sweety“ und fragt: „Gute Geschichte?“, und er nickt: „Gute Geschichte, sehr gute Geschichte.“

Vor fünf Jahren brannte die „Oyster Bar“ völlig aus, schuld war ein durchgeschmortes Kabel. Als der Restaurateur Jerry Brody, ein eleganter Herr von mehr als 80 Jahren und seit den sechziger Jahren Besitzer der Austernbar, gefragt wurde, ob der Brand das Ende seines Lokals bedeute, antwortete er dem Reporter: „In zwei Wochen können Sie hier wieder essen.“

Brody behielt Recht. Zwei Wochen nach dem Feuer ließ er das zerstörte Hauptgewölbe verdecken und führte Gäste durch einen unheimlichen Gang aus Vorhängen in ein Nebenzimmer, wo mit verkleinerter Austernkarte auf den karierten Tischdecken das Mittagessen serviert wurde.

Als ein Jahr darauf der Imbiss wieder hergestellt war, glich er bis hin zum exakten Kachelton der „Oyster Bar“ von früher. Die Einsamen kehrten nach und nach an die Tresen zurück und bröselten Lobsterkekse in die Suppen. Joseph Mitchell hätte die Auferstehung des Lokals gefallen. Er war ein Jahr vor dem Feuer gestorben.


Manhattan Clam Chowder

Zutaten für vier Personen

Sechs Scheiben kanadischer Bacon mit abgetrennten Rändern, in kleine Stücke geschnitten. Ein Pfund frische Venusmuscheln ohne Schale. Eine halbe Tasse Muschelsaft. Zwei mittelgroße Kartoffeln, geschält und in Würfel geschnitten; eine Tasse Wasser, eine Zwiebel, eine grüne Paprika, eine Karotte, acht Tomaten, Thymian, Petersilie, Stangensellerie, Lauch, eine viertel Tasse Tomatenmark, Salz, Pfeffer, Tabasco.

Zubereitung

Den Bacon anbraten, dann zusammen mit den anderen Zutaten – außer den Muscheln – in einen großen Topf geben. Kurz vor dem Siedepunkt Hitze reduzieren und 45 Minuten auf niedriger Stufe köcheln lassen, häufig umrühren. Muscheln dazugeben und zwei Minuten abkühlen lassen.


Grand Central Oyster Bar
Grand Central Terminal,
New York City.
Telefon 001/212/490 6650,
Fax 949 5210.
Täglich außer Sonntag von 11.30 bis 21.30 Uhr.

mare No. 34

No. 34Oktober / November 2002

Von Michael Saur und Robert Voit

Autor Michael Saur, Jahrgang 1967, lebt seit 1994 in New York.

Robert Voit, 1969 geboren in Erlangen, studierte an der Kunstakademie Düsseldorf bei dem weltweit bedeutenden Fotografiekünstler Professor Thomas Ruff. Voit ist ein Magier des Lichts, der seine Großformatkamera mit der Leichtigkeit einer Kleinbildkamera bedient. Seine Arbeiten waren in zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland zu sehen.

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Vita Autor Michael Saur, Jahrgang 1967, lebt seit 1994 in New York.

Robert Voit, 1969 geboren in Erlangen, studierte an der Kunstakademie Düsseldorf bei dem weltweit bedeutenden Fotografiekünstler Professor Thomas Ruff. Voit ist ein Magier des Lichts, der seine Großformatkamera mit der Leichtigkeit einer Kleinbildkamera bedient. Seine Arbeiten waren in zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland zu sehen.
Person Von Michael Saur und Robert Voit
Vita Autor Michael Saur, Jahrgang 1967, lebt seit 1994 in New York.

Robert Voit, 1969 geboren in Erlangen, studierte an der Kunstakademie Düsseldorf bei dem weltweit bedeutenden Fotografiekünstler Professor Thomas Ruff. Voit ist ein Magier des Lichts, der seine Großformatkamera mit der Leichtigkeit einer Kleinbildkamera bedient. Seine Arbeiten waren in zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland zu sehen.
Person Von Michael Saur und Robert Voit