Aussteiger I: Der letzte Freigeist

Was heißt hier „Flucht“? Der Abschied ist ein Aufbruch, ein Wagnis, der erste Schritt in ein selbstbestimmtes Leben. 21 Fragmente der Identität des Aussteigers

Niemand kann besser Auskunft geben über den Zustand einer Gesellschaft als der, der aus ihr aussteigt. In der Art des Ausstiegs und der Weise der Reaktion darauf lässt sich das Wertesystem eines Gemeinwesens lesen. Der Aussteiger ist die Rache der Gesellschaft an sich selbst.

Neuer Konsens scheint dieser Tage zu sein, das Hoheitsgebiet des alten Konsenses respektabel zu verlassen. Wer aus dem angestammten Koordinatensystem, festen Stellungen und Anstellungen aussteigt, ist kein Rebell, kein Desperado, Zivilisationsflüchtling, Weichei, Hallodri oder sonst ein asoziales Element mehr. Er ist jemand, der von seinem kulturell verbrieften Recht auf Selbstverwirklichung Gebrauch macht. Er tritt auf als Kommunarde, der in die Kleingemeinschaft steigt, oder als Solitär, der, im Gegenteil, jede Gemeinschaft meidet. Es gibt den Ideologen, den Idealisten, den Enttäuschten, den Sektierer und Anarchisten. Einen Prototypen des Aussteigers gibt es nicht. All seinen Verkörperungen gemein ist der Wille zur Selbststeigerung. Theoretisch betrachtet, ist der Aussteiger an sich der aufmüpfige Bürger einer durchregulierten Gesellschaft. Er ist das mündige Individuum par excellence.

In der Spätmoderne vermittelt sich Welt medial. Was der Fall ist, ist televisionär. Ob es visionär ist, bleibt zweifelhaft. Das Fernsehen in seinem Streben nach Simplizität (nichts ist gewinnbringender als die Stimulation und Ausschlachtung niederer Instinkte) okkupiert auf seiner Suche nach Verwertbarem die letzten Reservate menschlicher Intimität. Unersättlich organisiert die allmächtige Entertainmentindustrie über den Weltinnenraum des Bildschirms wohlkalkulierte Sehnsuchts- und Fantasieräume, die als Neidräume durchemotionalisiert werden.

Seit Kurzem also werden deutsche Durchschnittsfamilien in eine neue Existenzform geschickt, mit dem Ziel, Erwartung, Leid, Trauer, individuelles Ungeschick und Überforderung in exotischen Extremsituationen auszubeuten. RTL, der Marktführer für lukrative Trivialität, hat vor drei Jahren das erste Glied einer Kette von sogenannten „Auswandererdokus“ gesetzt, als das Magazin „Extra“ den vermeintlichen Ausstieg der Familie Reimann in eine amerikanische Kleinstadt inszenierte. In diesem Geist folgten Sendungen auf Vox, ProSieben, Kabel eins („Mein neues Zuhause XXL“), ARD („Deutschland ade“), ZDF („Kanada, oh Kanada“) und wiederum RTL („Umzug in ein neues Leben“). Die medial arrangierten Ausstiegsszenarien indizieren, dass das Ex und Weg aus dem bewohnten Kulturraum den Nerv der kritischen Masse trifft, sonst würden sich derartige, dem Quotenfetisch ergebene Sendungen nicht halten können. Das Abenteuerlich-Verwegene ist geradezu en vogue. In jedem Fall ist der „Ausstieg“ auf den Boulevard gekommen, auch wenn die Figuren des angeheuerten TV-Personals nichts mit dem zu tun haben, was im Folgenden mit dem Begriff „wesenhafter Aussteiger“ gemeint sein wird.

Immer schon stand der Aussteiger unter dem Verdacht der Welt-, Ich- oder Lebensflucht, der Zivilisationsmüdigkeit, gar -untauglichkeit, unter dem Verdacht auf Protest, Verweigerung und Kritik. Offensichtlich sind all diese Zuschreibungen negativ konnotiert. Sie setzen voraus, dass der Aussteiger sich bewusst gegen das Allgemeingültige wendet.

Was aber, wenn Aussteigen weder Müdigkeit noch Flucht, schon gar nicht Verweigerung, wenn es viel einfacher, nämlich die höchste Form der Zivilisiertheit ist: der geistig bewusst vollzogene Bruch des Bürgers mit den bürgerlichen Freiheiten aufgrund dieser Freiheiten? Wenn der Ausstieg also eine Entscheidung für etwas ist?

Im Jahr 1886 zog ein 38-jähriger Mann sehr bürgerlicher Herkunft in eine avantgardistische Künstlerkolonie in Pont-Aven in der Bretagne. Das Bukolisch-Einfache, Unverstellt-Authentische der bretonischen Menschen reizte ihn mehr als jede urbane Zivilisiertheit und metropolitane Behaglichkeit. Nach nur vier Jahren spürte er aufs Neue jene quälende Unruhe, sich nicht begnügen zu wollen. Zur Befriedigung der wiedererwachten Sehnsucht nach dem Paradiesischen schwankte er zwischen den Inseln Madagaskar und Tahiti.

1891 stieg der französische Impressionist Paul Gauguin zum zweiten Mal aus. Er verließ seine Familie, wurde Expressionist und malte in satter Buntheit ozeanische Frauen. Im zivilisatorisch unverderbten Tahiti wollte er seinen Traum eines „Tropenstudios“ verwirklichen, hier, hoffte er, würde er ein glückliches Leben führen können, ein Leben ohne wirtschaftliche Zwänge, in der Reinheit des Ursprungs, der schönen Harmonie der Elemente. Sein Eden war provisions- und kostenfrei, Wasser und Strom inklusive. Schmerzen hatte er trotzdem. 1902 siedelte er auf die Marquises-Insel Hiva Oa über und starb, nach einem Selbstmordversuch, als Alkoholiker und mit krankem Herzen, am 8. Mai 1903 in Atuona mit 54 an der Geschlechtskrankheit Syphilis.


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mare No. 65

No. 65Dezember 2007 / Januar 2008

Von Christian Schüle

Christian Schüle, Jahrgang 1970, hat in München und Wien Philosophie und Politische Wissenschaften studiert. Er lebt als Autor, Essayist und Reporter in Hamburg. Seine Texte wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Sein jüngstes Buch Türkeireise erschien 2006 im Malik-Verlag.

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Vita Christian Schüle, Jahrgang 1970, hat in München und Wien Philosophie und Politische Wissenschaften studiert. Er lebt als Autor, Essayist und Reporter in Hamburg. Seine Texte wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Sein jüngstes Buch Türkeireise erschien 2006 im Malik-Verlag.
Person Von Christian Schüle
Vita Christian Schüle, Jahrgang 1970, hat in München und Wien Philosophie und Politische Wissenschaften studiert. Er lebt als Autor, Essayist und Reporter in Hamburg. Seine Texte wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Sein jüngstes Buch Türkeireise erschien 2006 im Malik-Verlag.
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