Augen, die nicht sehen

Wie die Ozeandampfer der 20er Jahre die moderne Architektur prägten

Aus der jungen UdSSR flieht ein Revolutionär namens Trotzki, und in Indien fordert Gandhi die Unabhängigkeit von England. An der Wall Street kracht die Börse, und auf einem Schiff in Südamerika verliebt sich ein Schweizer Architekt in eine junge Sängerin aus St. Louis. In einer der engen Kabinen singt sie für ihn: „Ich bin ein kleiner schwarzer Vogel, der einen kleinen weißen Vogel sucht…“ Von der Affäre bleibt nicht viel. Sie sitzt ihm für ein Portrait Modell, und eine Fotografie zeigt die beiden bei einem Kostümfest. So erfahren wir von einer reizenden Liebelei auf der „Giulio Cesare“ im Jahre 1929, dem letzten Jahr der „roaring twenties“. Sie wird als „schwarze Venus“ berühmt werden, er als der Erneuerer der modernen Architektur. Lüften wir das Inkognito: Das schwarze Vögelchen ist die junge Revuesängerin Josephine Baker, das weiße der Schweizer Architekt Charles-Edouard Jeanneret, der erst unter seinem Künstlernamen berühmt wird: Le Corbusier.

Kurz nach der reizenden Passage mit Josephine Baker wird er sich in Paris über neue Pläne eines eigenartigen Hauses beugen, ein Haus so schön wie ein Ozeandampfer! Die „Aquitania“, die „Empress of Asia“, die „Flandre“, die großen Liner der Compagnie Transatlantique, der Cunard und der Canadian Pacific Line haben Modell gestanden für das Flaggschiff der modernen Architektur, für die „Savoye“. Ihr Stil und der Einfluss ihres Schöpfers werden den größten Teil der Architektur des 20. Jahrhunderts prägen und zu einer Architektur der Schiffe machen.

Zeitlebens wird Le Corbusiers Arbeit aus der Liebe zum Meer schöpfen. In Zeichnungen und Gedichten huldigt er der See, „der Tochter der Tropfen und Mutter der Gischt“. Er wird 77 Jahre alt und ertrinkt im August 1965 bei einem Badeunfall im Meer vor Cap Martin in Südfrankreich. „Alles kehrt zum Meer zurück“, schreibt er in einem Gedicht kurz vor seinem Tod. Eine lange Lebenswanderung hat er hinter sich: aus dem Schweizer Jura über die Hauptstadt Paris bis zur Brandung der Côte d’Azur. Schiffe haben die Konzepte und das Aussehen seiner Bauten bestimmt. „Homme de Lettre“ hat er sich in seinem Pass selbst genannt; Architekt des Meeres würde man ihn gern nennen, wenn man seinen Einfluss auf den internationalen Stil und die Architektur der Moderne würdigen wollte.

„Sehen Sie her, meine Herren Architekten“, ruft er seinen Kollegen in den Pamphleten seines Magazins, dem „Esprit Nouveau“, zu, „das hier ist die Schönheit unserer Zeit! Diese klaren Linien, diese saubere, gesunde Architektur!“ So klingt in den zwanziger Jahren der „neue Geist“ aus Paris. Die Maschinen, die Autos und vor allem die Ozeandampfer sollen der zeitgenössischen Architektur den Weg weisen. Diese Architektur, die wahllos Renaissance oder Barock zitiert, die in reaktionären Zitaten alter Stile gefangen ist, die sich in den Manierismen des Jugendstils und des Art déco windet, soll sich ein Beispiel an der kühlen Ingenieurästhetik der Dampfer nehmen. „Blicken Sie auf das Meer, meine Herren Architekten!“ – „Augen, die nicht sehen – die Ozeandampfer“ ist einer der Artikel des „Esprit Nouveau“, den er in einer Aufsatzsammlung 1922 publiziert. Dieses Buch „Vers une Architecture“ – 1926 auf deutsch unter dem ebenso hochmütigen Titel „Kommende Baukunst“ publiziert – ist das wichtigste Architekturbuch der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts geworden. Seine Wirkungsgeschichte hat im nachhinein den Anspruch des prätentiösen Titels eingelöst. Eine einfache Bildlegende aus „Kommende Baukunst“ ist zu einer der beliebtesten Architekturdefinitionen geworden: Unter einem Foto der „Empress of Asia“ steht: „Die Baukunst ist das kunstvolle, korrekte und großartige Spiel der unter dem Licht versammelten Baukörper.“

Wer gelernt hat zu sehen – wie es Le Corbusier verlangt hat –, wird in vielen Elementen moderner Architektur die Ozeandampfer wiedererkennen. Schon in der Gliederung der Fassaden spiegelt sie sich wieder. Der graue Schiffsrumpf wird zu einem dunkel gestrichenen oder zurückversetzten Sockelgeschoß. Die blendend weiße Schiffswand mit den langgezogenen Fensterbändern wird für die neuen Häuser unverändert übernommen. Ihren oberen Abschluss bilden nicht mehr steile Dächer, sondern flache Terrassen, die wie Decks aussehen und oft von geschwungenen Aufbauten bekrönt sind, von zylindrischen Körpern, die an die Schornsteine und Windhutzen von Dampfern erinnern. Die Mastaufbauten der Schiffe verwandeln sich in Fahnenstangen, die die Dachlinie überragen und niemals beflaggt werden. Ihre Funktion ist ja nur eine assoziative und nicht eine praktische. Es werden keine Geländer mehr gebaut, sondern relingartige Gestänge. Die Treppen werden steil und steiler, bis sie ebenso schwer zu erklimmen sind wie Schiffsleitern. Wenn früher Freitreppen von einem erhöhten Erdgeschoß in den Garten führten, so werden sie nun zu regelrechten Gangways.

Und als ganz vertrautes Element wechselt das Bullauge von der Schiffswand in die Hausfassade. Oft ragen über eine Seite der neuen Häuser kleine Balkone hinaus, die keinen anderen Sinn ergeben, als an eine Kommandobrücke zu erinnern. Schiffstüren mit unnötig hochgezogenen Schwellen führen von den als Decks gestalteten Terrassen ins Innere. Dort setzt sich das Spiel fort. Ungewohnt niedrige Decken hängen über den Räumen und ahmen so die extrem in die Breite gezogenen Proportionen der niedrigen Schiffsräume nach.

Schlafzimmer und Küchen sind auf das absolut notwendige Maß reduziert und konkurrieren mit Kabinen und Kombüsen. Sie zeugen von der Faszination der Architekten für die minimalisierten Abmessungen der beweglichen Wohnräume auf Schiffen, in Zügen und Flugzeugen. Selbst konstruktive Details werden direkt aus dem Schiffsbau übernommen. 1927 hat der Architekt Hans Scharoun nach der Besichtigung einer Werft den Reeder um Schiffskonstruktionspläne gebeten, weil er der Ansicht war, dass sich diese unverändert in den Hausbau übernehmen ließen. Was aber tatsächlich übernommen wurde, waren eher die Formen als die Konstruktionen, denn die traditionellen Bauweisen ließen sich nicht ohne weiteres durch neue ersetzen. So bestehen die meisten der Bauten der zwanziger Jahre, deren Erscheinung auf das Stahlgerippe und die Blechverkleidungen eines Schiffsrumpfes schließen ließen, aus ganz konventionell verputztem Mauerwerk.

1929, im Jahr, in dem Trotzki aus der jungen UdSSR vertrieben wird, in dem die Weltwirtschaft in die Krise stürzt, im Jahr auch, in dem Le Corbusier mit Josephine Baker gefeiert hat, entstehen die Pläne zu seiner berühmtesten Villa, der Villa „Les Heures Claires“. Aber nicht unter diesem ersten Namen geht das Haus in die Architekturgeschichte ein, sondern unter einem, der viel eher an die poetischen Namen von Transatlantik-Linern denken lässt: die „Savoye“.

Die für die Familie Savoye entworfene Sommervilla in der Nähe von Paris gilt als Abschluss und Höhepunkt einer ganzen Reihe seiner Villen und Wohnhäuser der zwanziger Jahre. Das Haus ist eine Verbeugung vor der Schönheit der Ozeandampfer. Seine ganze Formensprache ist der Ingenieurästhetik des Schiffbaus entliehen. Die Fassaden sind eine direkte Kopie des Achterdeck-Aufbaus der „Aquitania“. Horizontal ausgestreckte Fensterbänder, die blendend weißen Wände, die dunkle Sockelzone und die an Schornsteine erinnernden Dachaufbauten lassen schon von außen an einen Dampfer denken. Die zwei Decks und die Reling, die tief liegenden Decken der Räume und der Gegensatz zwischen kabinenartig kleinen Schlafzimmern und großzügigen Gemeinschaftsräumen führen im Innern die Illusion eines Aufenthalts an Deck fort. Die „Savoye“ hat zusammen mit Le Corbusiers anderen Villen der zwanziger Jahre die Architektur der Moderne entscheidend geprägt. Während vierzig Jahren blieb die Ästhetik des Dampfers für moderne Architekten die „richtige“. Der darauf gründende „Internationale Style“ setzte sich auf der ganzen Welt durch und wurde erst mit der Postmoderne beendet.


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mare No. 4

No. 4Oktober / November 1997

Von Hansjörg Gadient

Einige der Villen Le Corbusiers, darunter die erwähnte „Savoye“, sind heute restauriert und stehen als Museen dem Publikum offen. Informationen darüber erteilt die Fondation Le Corbusier in Paris unter der Telefonnummer 0033-1/42 88 41 53.

Hansjörg Gadient, Jahrgang ’62, ist Architekt und lebt in Forch bei Zürich. Für mare No. 1 schrieb er den Artikel Freiheit erleuchtet die Welt.

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Vita Einige der Villen Le Corbusiers, darunter die erwähnte „Savoye“, sind heute restauriert und stehen als Museen dem Publikum offen. Informationen darüber erteilt die Fondation Le Corbusier in Paris unter der Telefonnummer 0033-1/42 88 41 53.

Hansjörg Gadient, Jahrgang ’62, ist Architekt und lebt in Forch bei Zürich. Für mare No. 1 schrieb er den Artikel Freiheit erleuchtet die Welt.
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