Alte Seebären wissen Bescheid: Alles, was hochkommt, so empfehlen sie bei Wellengang, einfach so schnell wie möglich wieder runterschlucken. Doch das sagt sich so leicht. Bereits Cicero ließ, auf der Flucht vor den Schergen des Marcus Antonius, einst sein Schiff wenden, da er die Übelkeit nicht länger ertrug. Lieber kehrte er an Land zurück und ging in den sicheren Tod.
Il mal di mare, die Seekrankheit, ist eine höllische Pein. Kalter Schweiß dringt aus den Poren, die Haut verfärbt sich grün, das Herz rast, der Magen zuckt konvulsiv. Viele Erkrankte wollen bloß noch sterben. Auch Matrosen, Kapitäne und Weltumsegler bleiben nicht verschont. Und selbst dem berühmten britischen Admiral Lord Nelson wurde übel auf See. Kein Wunder, dass die Menschheit fast alles probiert hat, um diese Qual zu besiegen. Bei den alten Griechen galt ein Cocktail aus Wein und Meerwasser als Gegengift. Die Römer schmierten sich in Essig gelöstes Flohkraut unter die Nase. Spätere Quacksalber setzten auf Eigelb, Schröpfköpfe, Petersilie. Und im mittelalterlichen England wurde zur Bekämpfung der Seekrankheit gar ein neuer Berufsstand erfunden: Der königliche „Kopfhalter“ hatte ausschließlich die Aufgabe, das Haupt des Monarchen auf See zu stützen und die Schiffsbewegungen auszugleichen. Das funktionierte ganz gut – solange der Kopfhalter nicht selbst seekrank wurde. Um 1900 empfahlen Ärzte dann Betäubungsdrogen wie Chloroform, Arsen, Blausäure oder Opium. Daraufhin dämmerten viele Passagiere an Bord unter Narkose dahin.
Und heute? Manche setzen auf Salzbrezeln und warme Cola. Andere tragen Spezialbrillen mit wackelnden Horizontbalken in den Gläsern oder versuchen es mit Akupressurarmbändern und Ingwer. Wieder andere dröhnen sich mit Psychopharmakapillen zu. Was immer hilft, wie schon seit eh und je: vorbeugen – und zwar über die Reling.
Bisher wurden mehr als 2000 wissenschaftliche Arbeiten zur Seekrankheit publiziert. Aus statistischer Sicht ist das Leiden gut erforscht: Frauen sind anfälliger als Männer; Kleinkinder und Betagte werden seltener seekrank als Personen in mittlerem Alter; und Asiaten sind stärker gefährdet als Afrikaner und Europäer. Nur, was hilft die Statistik, wenn man mit grünem Gesicht an der Reling steht?
Die genauen Ursachen der Seekrankheit blieben der Wissenschaft lange ein Rätsel. Irgendwie scheinen die Turbulenzen auf hoher See den menschlichen Organismus zu überfordern. Doch auch beim Betrachten von Filmen, in denen Sturm- szenen auf dem Meer vorkommen, wird manchen Leuten im Kinosessel übel. Die optische Wahrnehmung muss also entscheidend sein, folgerten die Forscher. Allerdings machten sie eine überraschende Entdeckung: Auch Blinde werden seekrank. Überdies fand ein britischer Arzt heraus, dass Taubstumme, bei denen das Innenohr beschädigt ist, gegen Seekrankheit immun sind. Das Gleichgewichts- organ im Innenohr scheint also von zentraler Bedeutung zu sein.
Heute erklären die meisten Mediziner Seekrankheit so: Die Lymphflüssigkeit in den Bogengängen des Innenohrs reagiert auf die Bewegungen des Schiffes. Haarzellen in diesem Gleichgewichtsorgan melden dem Gehirn die jeweilige Richtung der Flüssigkeitsströmung und geben so Hinweise auf die Bewegung des Körpers im Raum. Gleichzeitig treffen im Hirn aber auch Signale aus dem Sehapparat ein und aus Rezeptoren in Muskeln und Gelenken, die ebenfalls Informationen zur Bewegung des Körpers im Raum liefern – unter Deck beispielsweise nimmt ein Passagier über das Auge keine Schiffsbewegungen wahr. Das Innenohr aber meldet Schaukelbewegungen, und mit den Füßen muss der Passagier sich womöglich gegen das Schwanken stemmen. Die widersprüchlichen Signale lösen im Hirn eine Art Kurzschluss aus – und der Organismus reagiert mit Seekrankheit. Warum er das aber auch tut, wenn die Sinnesorgane keine voneinander abweichenden Informationen liefern – etwa an Deck, das schwankende Meer vor Augen –, erklärt diese Theorie allerdings nicht.
Ein Zaubermittel gegen die Seekrankheit fanden bisher weder Ärzte noch Pharmaforscher. Viele Betroffene suchten ihr Heil in der Naturmedizin. Ingwer etwa wurde im alten China bereits zur Zeit Konfuzius’ gegen Übelkeit verzehrt, und auch bei Seekrankheit schwören noch immer unzählige Menschen auf diese Wurzel. Dabei brachte in den neunziger Jahren eine wissenschaftliche Studie im Auftrag der Nasa Ernüchterung: Ingwer hilft nicht, weder auf See noch im Weltraum.
Doch Apotheker machen mit der Verzweiflung der Menschen gute Geschäfte. Allein in Deutschland verkaufen sie jährlich mehr als fünf Millionen rezeptfreie Mittel gegen die See- und Reisekrankheit und erzielen damit einen Umsatz von 26,5 Millionen Euro. Nicht selten verschreiben Mediziner auch Psychopharmaka. Mit Nebenwirkungen. Was etwa dazu führen kann, dass Tage nach einer Überfahrt mit der Autofähre noch starke Halluzinationen an Land auftreten.
Eines der bekanntesten Seglermedikamente ist Scopoderm TTS, ein Pflaster, das den Wirkstoff Scopolamin abgibt. Mögliche Nebenwirkungen: Unkonzentriertheit, Irritationen der Sehkraft, Verlust von Erinnerungen. Als potenziell wirksam gelten darüber hinaus etwa das Antidepressivum Doxepin sowie das Medikament Selegilin, das ursprünglich gegen Parkinson entwickelt wurde. Im fortgeschrittenen Stadium der Seekrankheit löst jedoch schon das Schlucken einer Pille oft erneutes Erbrechen aus.
Mitte der neunziger Jahre haben britische Forscher 182 Teilnehmer einer Rund-um-die-Welt-Segelregatta befragt. Die Hälfte der Probanden griff vor und während der Reise auf starke Medikamente wie Scopoderm TTS zurück. Das Kuriose: Diejenigen, die auf eine Medikation verzichteten, litten weniger an Seekrankheit und Erbrechen als die präparierten Versuchsteilnehmer. Eine Umfrage unter 20 000 Passagieren von Kanalfähren ergab ein ähnliches Resultat: Sechs Prozent jener Reisenden, die keine Medikamente eingenommen hatten, wurden seekrank. Bei den medikamentös Behandelten klagten dagegen zwölf Prozent über Übelkeit.
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Till Hein, 38 Jahre alt, ist Reporter und Wissenschaftsjournalist in Berlin. Er hat Geschichte und Russisch studiert und schreibt unter anderem für die „Zeit“ und „Geo“. Auf einem Fischkutter in der Bretagne wurde Hein einmal ganz grün im Gesicht. Erst nach einem langen Mittagsschlaf in der Koje rebellierte sein Magen nicht mehr. Schlafen, weiß er seither, ist für ihn die beste Medizin.
Der Hamburger Illustrator Stephan Storp, geboren 1966, zeichnet für Zeitschriften und Werbeagenturen. Er war noch nie seekrank, besitzt aber nach eigener Aussage für alle Fälle einen schönen Eimer.
Vita | Till Hein, 38 Jahre alt, ist Reporter und Wissenschaftsjournalist in Berlin. Er hat Geschichte und Russisch studiert und schreibt unter anderem für die „Zeit“ und „Geo“. Auf einem Fischkutter in der Bretagne wurde Hein einmal ganz grün im Gesicht. Erst nach einem langen Mittagsschlaf in der Koje rebellierte sein Magen nicht mehr. Schlafen, weiß er seither, ist für ihn die beste Medizin.
Der Hamburger Illustrator Stephan Storp, geboren 1966, zeichnet für Zeitschriften und Werbeagenturen. Er war noch nie seekrank, besitzt aber nach eigener Aussage für alle Fälle einen schönen Eimer. |
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Person | Von Till Hein und Stephan Storp |
Vita | Till Hein, 38 Jahre alt, ist Reporter und Wissenschaftsjournalist in Berlin. Er hat Geschichte und Russisch studiert und schreibt unter anderem für die „Zeit“ und „Geo“. Auf einem Fischkutter in der Bretagne wurde Hein einmal ganz grün im Gesicht. Erst nach einem langen Mittagsschlaf in der Koje rebellierte sein Magen nicht mehr. Schlafen, weiß er seither, ist für ihn die beste Medizin.
Der Hamburger Illustrator Stephan Storp, geboren 1966, zeichnet für Zeitschriften und Werbeagenturen. Er war noch nie seekrank, besitzt aber nach eigener Aussage für alle Fälle einen schönen Eimer. |
Person | Von Till Hein und Stephan Storp |