Arsenal, Zutritt verboten

Das Werftengelände war Europas größter militärisch-industrieller Komplex – und ist bis heute gesperrt

Wenn Sergio Cavalieri erzählt, dann ist auf einmal alles wieder da: das Rufen und das Stöhnen der Arbeiter, die den Rumpf einer 50 Meter langen Kriegsgaleere in die Werkshalle schleppen. Die Männer mit den schwarzen Gesichtern, die im Prasseln und Sprühen der Feuerfunken ihr Eisen zu Kanonenrohren schmieden. Die Heerschar von Zimmerleuten, die mit ihrem Klopfen und Hämmern die Werfthallen mit ohrenbetäubendem Lärm füllen.

Sobald Cavalieri verstummt, erobert die Stille das „Arsenale“ von Venedig zurück. Dann regiert wieder, wie seit vielen Jahren, die große Leere. Der 56-Jährige ist ein Arbeiter ohne Arbeit, und das schon seit drei Jahrzehnten. Denn als er seine Stelle antrat, verlegte die italienische Marine gerade ihre Flotte von Venedig in den Süden, nach Tarent und Brindisi. Es gibt zwar immer noch einen Admiral zur See im Arsenal, zuständig für die nördliche Adria, aber einen Admiral ohne Flotte.

Wären Cavalieri und seine 30 Kollegen nicht so spät geboren, dann wären sie Angestellte des weltgrößten Industriekomplexes gewesen. Sie hätten an einem Ort gearbeitet, der Weltgeschichte schrieb. Wenn die letzten der Arsenal-Arbeiter, in Venedig liebevoll-spöttisch „Arsenalotti“ genannt, im Halbdunkel der uralten Werkshallen aus der glanzvollen Geschichte erzählen, dann sprechen sie nur im Flüsterton. Ganz so, als müssten sie noch heute die ungeheure Macht und Gewalt fürchten, die früher von der Seerepublik Venedig ausgegangen ist.

Waren es nicht Männer aus dem Arsenal, die in Rekordzeit die größten Flotten der Christenheit bauten, um fast 500 Jahre lang so viele wichtige Schlachten im Mittelmeer zu gewinnen? Sorgten nicht die hier im 15. Jahrhundert gebauten Handelsschiffe dafür, dass Venedig zum New York der Renaissance wurde ? Zur größten Stadt Europas, mit 175 000 Einwohnern belebter als London oder Paris?

Gleich hinter den „Torri di Ingresso“, den Türmen des Haupteingangs, liegt der älteste Teil des fast einen Quadratkilometer großen Werftenkomplexes. Sein Kern, die „Darsena Vecchia“, die ihren Namen aus dem Arabischen geerbt hat – „Darsina’a“ steht für Werkshaus oder Werkstatt –, ist verblüffend klein: Das Hafenbecken erinnert von der Größe her eher an das Schwimmbecken eines Freibads als an die Werft, deren Schlachtschiffe in den Lauf der Weltgeschichte eingriffen. Wie war es möglich, dass auf diesen wenigen Quadratmetern die Flotte entstand, die das byzantinische Weltreich zerschlug ? Heute dümpelt ein kleines Polizeiboot, wo vor 800 Jahren Tausende von Arbeitern Schiffe im Akkord zu bauen begannen.

Auf dem Lido von Venedig, wo sich heute im Sommer die Gäste der Luxushotels bräunen, lagerte im Jahr 1202 die Armee des vierten Kreuzzugs. 4500 Ritter und ihre 5000 Pferde, 9000 Knappen und 20 000 Fußsoldaten waren auf dem Weg in das Heilige Land. Die Zeit drängte, die Soldaten wurden ungeduldig. Franzosen, Deutsche und Spanier versprachen den Venezianern 20 Tonnen Silber, wenn sie für diese Truppe Schiffe bauten. Mit diesem Großauftrag begann die Blütezeit des Arsenals. Innerhalb weniger Monate zimmerten die ersten Arsenalotti 100 Kriegsgaleeren und 30 Transportschiffe für die Invasionsflotte der Kreuzritter.

Wann genau das erste Schiff die Werft im Osten Venedigs verließ, ist umstritten. Das Goldene Buch der Stadt nennt als Baubeginn der Werkstätten das Jahr 1104 und als Bauherrn den Dogen Ordelaffo Falier. Andere Quellen datieren die Ursprünge der Darsena Vecchia um das Jahr 1150. Möglich war der schnelle Bau so vieler Schiffe auf so kleinem Raum nur deshalb, weil die Schiffe in konsequenter Arbeitsteilung gebaut wurden: Ein Trupp von 30 Männern stellte nur Rümpfe her, die dann in große Hallen gezogen wurden, wo Schmiede das Schiff mit allen Eisengegenständen ausrüsteten. Im Hochmittelalter, als ein Ort mit 5000 Einwohnern als Großstadt galt, arbeiteten auf der Kriegsschiffwerft Venedigs 3000 Schiffszimmerleute, 2000 Schmiede und 1000 Seiler. Jahresausstoß: 200 Schiffe.

Diese revolutionäre Produktivität hat auch Dante Alighieri beeindruckt, als er vor 700 Jahren als Botschafter des Fürsten Guido da Polentas nach Venedig kam. Im 21. Gesang seiner „Göttlichen Komödie“ hat er dem Eifer der Arsenalotti ein Denkmal gesetzt: „Im Arsenale der Venezianer, wo der Teer kocht während des Winters, sieht man einige, die Schiffe bauen, andere teeren, einige bringen die Eisenteile an, wieder andere die Ruder und Segel, manche arbeiten am Bug, andere am Heck.“

Es gibt in der Weltgeschichte keinen anderen Industriestandort, der in seiner Bedeutung mit dem Arsenal zu vergleichen wäre. Die Schiffsbauer ermöglichten es der Stadt Venedig – zunächst ein Häuflein von Kaufleuten, Soldaten und Matrosen –, zur Supermacht aufzusteigen, die Jahrhunderte überdauerte. „Kanal von Venedig“ nannten die Venezianer das Gewässer draußen vor der Lagune. Erst vor 200 Jahren bekam es einen neuen Namen: Adria.


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mare No. 18

No. 18Februar / März 2000

Von Kerstin Becker und Robert Voit

Kerstin Becker, Jahrgang 1964, hat in Hamburg Wirtschaftswissenschaften studiert. Seit neun Jahren berichtet sie als Korrespondentin des Springer-Auslandsdienstes aus Rom.

Der Fotograf Robert Voit, 1969 in Erlangen geboren, ist für diese Reportage eine Woche lang mit seiner Großbildkamera – und einer Sondergenehmigung der italienischen Marine – durch die Trümmerlandschaft gestiegen. Beide Reporter waren zum ersten Mal für mare unterwegs.

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Vita Kerstin Becker, Jahrgang 1964, hat in Hamburg Wirtschaftswissenschaften studiert. Seit neun Jahren berichtet sie als Korrespondentin des Springer-Auslandsdienstes aus Rom.

Der Fotograf Robert Voit, 1969 in Erlangen geboren, ist für diese Reportage eine Woche lang mit seiner Großbildkamera – und einer Sondergenehmigung der italienischen Marine – durch die Trümmerlandschaft gestiegen. Beide Reporter waren zum ersten Mal für mare unterwegs.
Person Von Kerstin Becker und Robert Voit
Vita Kerstin Becker, Jahrgang 1964, hat in Hamburg Wirtschaftswissenschaften studiert. Seit neun Jahren berichtet sie als Korrespondentin des Springer-Auslandsdienstes aus Rom.

Der Fotograf Robert Voit, 1969 in Erlangen geboren, ist für diese Reportage eine Woche lang mit seiner Großbildkamera – und einer Sondergenehmigung der italienischen Marine – durch die Trümmerlandschaft gestiegen. Beide Reporter waren zum ersten Mal für mare unterwegs.
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