An einem Strand vor unserer Zeit

Alljährlich treffen sich Liebhaber der 1950er-Subkultur in einem Hafenstädtchen an der Adria – fröhlich, bunt, swinging

Was eigentlich ist das menschliche Sehnen? Ein Bedürfnis? Ein Wunsch? Ein Durst? Ein Trieb? Und wonach strebt es? Nach Ganzheit? Freiheit? Liebe? Sex? Dies nur vorweg. Der Zug rattert. Rimini liegt schon hinter uns. Es ist nicht mehr weit bis in die 1950er-Jahre. Ein paar Stationen noch. Vorbei an dem Sommergewitter, das sich gerade in dicken Tropfen vom Himmel stürzt. Dann sind wir da.

In Senigallia. Jenem Ort an der Adria, den ein Mann jedes Jahr Anfang August in eine Poesie verwandelt, in der alles wippt und tanzt und ein Leben preist, das längst vergangen ist und doch aktuell. Es ist „Summer Jamboree – the hottest rockin’ holiday on earth“, das größte Festival Europas zu Ehren der amerikanischen Kultur der 1940er- und 1950er-Jahre und des Rock ’n’ Roll. Aber es ist noch mehr. Es ist ein Ausflug zu den Wurzeln unserer Sehnsucht, die da lautet: irgendwie froh zu sein.

Und so steigt man aus der Bahn voller Menschen mit Tollen oder Hüten, Petticoats mit Polka-Dots und pralle rote Lippen dazu. Und fühlt sich, als mache man einen Zeitsprung. Man geht hinunter zum zartblauen Meer und trifft auf der Promenade die Flaneure. Einer schöner als der nächste und niemand in Eile. Sie schlendern, fahren Rad, die Herzdame auf dem Lenker, den Kumpel auf dem Gepäckträger. In der Luft die Süße des Südens und Rock ’n’ Roll, der aus Lautsprechern schallt.

Was ist das hier, fragt man sich – Traum oder Wirklichkeit? Und läuft weiter. Vorbei an dem Pulk eines Junggesellenabschieds aus Perugia. 44 Typen in Jeans mit Hosenträgern, darunter T-Shirts mit Warnschild – vor saufenden, pinkelnden, kotzenden Männchen. Die Stimmung ist gut, die Augen sind schon glasig. Einer spricht eine Frau an, sagt ihr, dass sie schön sei und, wäre da nicht der Ring an seinem Finger und die kleine Tochter zu Hause, „dann würden wir Liebe machen die ganze Nacht“. Man lacht, unterhält sich, wünscht sich Glück, macht ein Selfie, weiter geht’s, jeder seines Weges.

Dass die ganze Stadt voller Menschen in 1940er- und 1950er-Jahre-Kleidung ist, begreift man erst an einem der zentralen Plätze. Auf der großen Bühne wirft Bobby Brooks Wilson aus den USA seine Hüften in capriblauen Hosen hin und her und singt den „Twist“. Und sofort beginnt die Menge zu twisten. Dies, spätestens, ist der Moment, in dem es einen erwischt. Es wäre einfach, wenn man sich distanzieren könnte. Schmunzeln über die Retrorebellen, die sich hier versammelt haben. Doch das geht nicht. Weil etwas am Wirken ist, dass einen bezirzt. Ein Zauber.

Aber welcher? Sind es die Farben, die Rhythmen? Die Mischung aus italienischer Eleganz und amerikanischer Leichtigkeit, die unterm Mondschein verschmelzen? Oder die Tatsache, dass sich alle herausgeputzt haben? Kein Männerhintern verschwindet in Baggy Pants. Ein Mädchen im zitronengelben Rock fliegt beim Tanzen um ihren Partner, dem ins Gesicht geschrieben steht, dass er sie vergöttert. Sie, den Sommer, die Nacht und den Beat. Kaum jemand bleibt in diesen Nächten ungefragt, ob er tanzen möchte.

Und so tänzelt man weiter, zur Festung, in der eine Zeltstadt aufgebaut ist, mit Ständen, an denen es Klamotten und Platten und weitere Bühnen gibt. An einer Ecke, jedes Jahr derselben, steht ein silberner Wohnwagen. Darin Greg und seine Frau Asha aus Luton bei London. Jeder kennt sie. Greg ist Tätowierer, in der Mitte des Wagens steht sein Tätowierstuhl, hier sticht er all den Rockabillies ihre Schwalben, Pin-ups, Anker oder was auch immer sie sich wünschen, in die Haut.

Fragt man Greg, der „Everlasting Hope“ auf der Brust stehen hat, was er liebt an der Musik und der Szene, sagt er: „Du kannst zu moderner Musik nicht so mit einer Frau tanzen und mit ihr eine Verbindung aufbauen, wie du es zu Swing und Jive kannst.“ Trotzdem gehe es nicht darum, zurückzuschauen. Man lebe „im Hier und Jetzt“, aber möge einfach den Stil der 1940er- und 1950er-Jahre. Manche laufen das ganze Jahr über so herum, andere nur fürs Festival. „Aber wir lieben sie alle“, sagt Greg. Und überhaupt: „Wenn du nicht fühlst, was wir fühlen, gehörst du nicht hierher.“ Das sagt er nicht abschätzig, nicht so, dass man es als Ausschluss ver­stehen könnte, eher feststellend. „Aber du fühlst es!“ Und es stimmt, die Stadt scheint in diesen Tagen: Gefühl. Es geht um alles, nur nicht um Gleichgültigkeit.

So zieht man weiter. Vorbei an wippenden, schwingenden Körpern. Zu Klängen und Texten voller Schmalz und Witz. Vor einer Kulisse, die ein Filmset sein könnte. Nicht weit von hier: der Oldtimerparkplatz. Wer mit Baujahr 1969 oder älter angereist ist, darf hier vorfahren und parken – vor den Blicken der anderen. Es röhrt, dann stehen sie da, die Buicks, Cadillacs und Chevys, in Bonbonfarben, mit ausladenden Formen, aus denen sich Beinchen in Petticoats schwingen oder Männer mit weißen Unterhemden, den Kamm in der Hand, um die Tolle zu richten.


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mare No. 116

No. 116Juni / Juli 2016

Von Andrea Walter und Giovanni Cocco

Andrea Walter, Jahrgang 1976, zögerte nicht, als sie – selbst kein Rockabilly – gefragt wurde, ob sie über ein Rockabilly-Festival berichten möchte. Und war vor Ort so betört, dass auch ihre Lippen jeden Tag ein bisschen röter wurden.

Der in Rom und Berlin lebende Giovanni Cocco, geboren 1973, interessiert sich für Subkulturen. Die Rockabillies faszinieren ihn wegen ihrer Suche nach einer Vergangenheit, die sie nie kannten.

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Vita Andrea Walter, Jahrgang 1976, zögerte nicht, als sie – selbst kein Rockabilly – gefragt wurde, ob sie über ein Rockabilly-Festival berichten möchte. Und war vor Ort so betört, dass auch ihre Lippen jeden Tag ein bisschen röter wurden.

Der in Rom und Berlin lebende Giovanni Cocco, geboren 1973, interessiert sich für Subkulturen. Die Rockabillies faszinieren ihn wegen ihrer Suche nach einer Vergangenheit, die sie nie kannten.
Person Von Andrea Walter und Giovanni Cocco
Vita Andrea Walter, Jahrgang 1976, zögerte nicht, als sie – selbst kein Rockabilly – gefragt wurde, ob sie über ein Rockabilly-Festival berichten möchte. Und war vor Ort so betört, dass auch ihre Lippen jeden Tag ein bisschen röter wurden.

Der in Rom und Berlin lebende Giovanni Cocco, geboren 1973, interessiert sich für Subkulturen. Die Rockabillies faszinieren ihn wegen ihrer Suche nach einer Vergangenheit, die sie nie kannten.
Person Von Andrea Walter und Giovanni Cocco