Am Anfang war das Meer

Seelenheil aus den Ozeanen ­– Religionen im Vergleich

„Wie der weite Ozean nur einen einzigen Geschmack hat, den des Salzes, so hat auch der Glaube nur einen einzigen: den der Erlösung.“ – Buddha

Die schwarze Greisin ist barfuß. Sie trägt einen Strauß Rosen, deren üppige Blätter an den tropischen Garten erinnern, in dem sie gewachsen sein mussten. Der Wind vom Atlantik hat sich in den weißen Lumpen der Alten verfangen, sodass sie einer Möwe gleicht, die über den Strand flattert. Dann steht sie im knietiefen Wasser.

„Sie bereitet sich vor auf den Tod“, sagt Alimbi. Die Greisin lässt Rose um Rose fallen. Eine launische Strömung erfasst die roten Blüten und zieht sie hinaus auf die offene See.

„Yemanja hat das Opfer angenommen“, sagt Alimbi und zeigt auf die blutfarbenen Tupfer der Blumen, die im Auf und Ab der Wellen tanzen.

Yemanja ist die Göttin des Meeres im Kult des Umbanda. Und Alimbi ein Babalo, ein Priester der afrobrasilianischen Religion. „Wir kommen aus dem Meer“, sagt er. „Und zum Meer werden wir zurückkehren. Und wenn Yemanja unsere Opfergaben nicht wieder an den Strand wirft, dann ist sie bereit, uns zu begleiten auf unserer letzten Reise.“

Später spricht der Babalo von den Orixas, den Geistern der schwarzen Ahnen, die einst aus dem Westen und über den Atlantik gekommen seien. Er spricht von Xango, dem Herrn des Himmels. Und davon, dass auch das Firmament ein grenzenloser Ozean sei und die Sterne nichts als strahlende Archipele. Das Meer ist für Alimbi nur eine Spiegelung des Himmels. Und der Himmel ein Meer.

„Alles ist vergänglich“, sagt er. „Nur der Ozean nicht. Wasser stirbt nie.“ Ritus am Strand von Rio de Janeiro – das Meer lebt ewig. Sein Wasser verdunstet, steigt auf und wird wiedergeboren als Regen, als Fluss. Und alle Flüsse führen wieder zur See, die – wie Marcel Proust schreibt – „ihr rätselhaftes Dasein schon vor der Entwicklung des Menschengeschlechts geführt hat“. Vielleicht ist das der Grund, warum die Mythen der Schöpfung und des Untergangs im Meer beginnen und im Meer enden.

Jede lebende Kreatur, sagen die Griechen, entstammt dem Okeanos, der sich selbst erschuf und die Welt umspült. Der erste Ton, den der menschliche Fötus in seiner Fruchtblase hört, ist der Klang von Wasser. Der Rhythmus entspannten Atmens stimmt, wie bereits Vergil betont, auf verblüffende Weise mit dem Takt einer mäßig bewegten See überein. Und der Salzgehalt unseres Blutes ähnelt dem der großen Ozeane.

Das Meer ist der Gott, der uns geboren hat, und der Dämon, der uns verschlingt. Wie im Epos von Gilgamesch, das die Sumerer vor 5000 Jahren in feuchten Ton ritzten. „Und die Erde brüllte auf wie ein Stier. Da sandte Enlil, der Herr der Winde die Flut, um zu ertränken das Geschrei und den Lärm.“ Der Mythos von der Sintflut ging ein in die Religionen der Juden, Christen, Moslems, und das kochende Meer wurde zum Sinnbild für den Zorn der Götter – genau wie im Griechenland der Antike, wo die rasende See, aufgewühlt von den Ungeheuern der Gorgonen, über Platons Atlantis herfiel und den Kontinent der Legenden in die Tiefe riss.

Aber der Ozean symbolisiert nicht nur Ursprung und Apokalypse. Er ist auch eine Allegorie für Unendlichkeit und Erlösung, Heilsweg und Gott zugleich. Die Seelen der Hindus werden erst frei für den Kreislauf der Wiedergeburten, wenn Mutter Ganga die Asche der Toten in den Golf von Bengalen und ins Meer spült. Buddha wurde geboren aus dem Ozean des Nichts, der großen Leere Sunyata. Der Klang des Meeres gilt vielen Buddhisten als die älteste Beschwörungsformel, als Ur-Mantra schlechthin. Und wer sich in das Rauschen versenkt und der Zeit beim Atmen zuhört, kann eine Pforte ins Nirwana finden.

Much Mohammed war auf der Suche nach der Stimme der Ewigkeit. Wie Moses und Jesus vor ihm suchte er Allah in der Wüste. Aber er nannte das Land der Steine und des Sandes, den der Wind zu Wellen bläst, „Bahr bidun Ma’“, Meer ohne Wasser. Selbst altsemitische Völker wie die Phönizier verehrten neben den Idolen der Fruchtbarkeit, die sie der Erde und den Bäumen geweiht hatten, Gottheiten der See. Sogar ihr Totengebet richteten sie an das Meer: „Mutter Karthagos! Ich lege das Ruder ab!“

In manchen Kulturen verkörpert der Ozean noch heute die verborgenen Eigenschaften der Götter und Geister, personifiziert in den Geschöpfen des Meeres. Fischer und Seeleute beten zu den Tierwesen und bringen ihnen Opfer dar. In ihren Ritualen halten sie geheimnisvolle Zwiesprache mit Walen, Haien, Robben, Schildkröten und bitten sie um Schutz und reichen Fang, bevor sie ausfahren.


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mare No. 19

No. 19April / Mai 2000

Von Walter Saller

Walter Saller, 1956 geboren, studierte Arabisch und Religionswissenschaft. Er lebt als freier Autor in Berlin. In mare No. 17 schrieb er über die Fischer von Gaza.

Wir danken Dietrich Schleip von cultureconsulting, Stuttgart, für seine Hilfe bei der Bildrecherche

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Vita Walter Saller, 1956 geboren, studierte Arabisch und Religionswissenschaft. Er lebt als freier Autor in Berlin. In mare No. 17 schrieb er über die Fischer von Gaza.

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Vita Walter Saller, 1956 geboren, studierte Arabisch und Religionswissenschaft. Er lebt als freier Autor in Berlin. In mare No. 17 schrieb er über die Fischer von Gaza.

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