Alle Vögel sind schon weg

Eine Schlange befällt die Insel Guam. Ohne natürliche Feinde, breitet sie sich explosionsartig aus, kriecht durch Supermärkte, gelangt in Schlafzimmer. Eingeschleppt wurde sie übers Meer

Ernie Matson ist ein Mann mittleren Alters, ein freundlicher Bulle. Man sieht die Muskeln, die einst Rodeopferde zähmten. Und die das Holz für sein Haus auf Guam stemmten. Man kann sich vorstellen, wie Ernie Matson die Schlange bezwang.

„Well“, sagt er, „es war ziemlich früh, so gegen sechs, und Skyler schrie.“ Skyler ist Ernies Sohn, vor 23 Jahren war er ein zehn Monate altes Baby. Doch diesmal schien es nicht das übliche Geplärre eines Säuglings zu sein. Es war ein Hilfeschrei. „So viel war klar.“

Ernie Matson stürzt ins Kinderzimmer. Er sieht die Schlange, wie sie sich um Skylers Hals windet, ihren Kopf, der sich im Fuß verbissen hat. „Zum Glück“, sagt Ernie, „wog Skyler da schon 18 Pfund. Ein paar Pfund weniger, und er hätte nicht überlebt.“ Der Mann packt das eineinhalb Meter große Reptil, er reißt, er brüllt, er schleudert es aus dem Fenster. „Well“, sagt Ernie lächelnd, „das dumme Vieh hatte mein Baby mit einem Huhn verwechselt.“

Einen Tag nur musste Skyler ins Krankenhaus, heute studiert er in den Staaten. An jene Schlange, sagt Ernie, könne sich sein Sohn nicht erinnern. Auch sonst sei nichts zurückgeblieben, jedenfalls was Skyler betrifft. Was Guam angeht, allerdings schon. Die Schlange nämlich gibt es immer noch.

Guam ist eine kleine Insel im Pazifik, auf halbem Weg zwischen Japan und Papua-Neuguinea. Das Eiland ist halb so groß wie Rügen, das Fremdenverkehrsamt prahlt zu Recht mit imposanten Stränden, einem kleinen Dschungel und scharf geschnittenen Flusstälern.

Das Innere der Insel ist triste Savanne. Mittendrin liegen die Kasernen der Andersen Air Force Base. Guam ist sogenanntes US-Territorium, was bedeutet, dass die Einwohner Bürger der Vereinigten Staaten sind und dennoch eine eigene Hymne singen dürfen. Guam stellt auch eine eigene Fußballnationalmannschaft. Bei der Qualifikation zur vergangenen Weltmeisterschaft landete sie hinter Tonga auf dem letzten Platz.

Die City – eine Einkaufsstraße plus Hotels – ist bevölkert von Japanern auf Wochenendtrip. Tagsüber gehen sie shoppen oder ballern an den zahlreichen Schießständen auf Dummys aus Blech, ein Dollar die Patrone. Abends gehen sie feiern. Guam ist Nippons Partyinsel.

Die Insel lebt vom Tourismus und vom Handel. Im Hafen landet Fracht aus Australien, aus Südostasien, von den Salomon-Inseln. Überall in diesen Gegenden ist auch Boiga irregularis, die Braune Nachtbaumnatter, zu Hause. Vor etwa 60 Jahren muss sie sich von einem Schiff geschlichen haben. Wahrscheinlich kam sie aus Neuguinea und war gerade trächtig. Ohne natürliche Feinde, breiteten sich ihre Nachkommen explosionsartig aus. Die Schlangen kriechen heute durch Supermärkte, gelangen in Schlafzimmer, schlüpfen in Gummistiefel. Szenen wie aus einem Horrorroman.

Die Invasion begann im Süden der Insel. Die Schlangen drangen in Hühnerkäfige kleiner Farmen ein, erdrosselten Tauben und Kätzchen. Schon bald wurden auch aus dem Landesinnern Verluste gemeldet. Schließlich krochen die Einwanderer bis in den Norden. Oft liegen satte Reptilien morgens auf Vogelvolieren. Oder sie liegen drinnen, aufgebläht durch die Völlerei, und kommen nicht mehr raus. Gerne winden sie sich um Masten und Leitungen – nicht ohne Folgen: Seit 1978 wurden ihretwegen über 1000 Stromausfälle verzeichnet, manche führten zu inselweiten Blackouts.

Für besonders große Aufregung sorgen die Attacken auf Guams Babys. Rund 100 Angriffe sind dokumentiert. Im August 1987 kam ein zwei Monate alter Junge in die Notaufnahme des Guam Memorial Hospital. Eine Schlange hatte laut Arztbericht dem Jungen in den Arm gebissen und sich um seinen Nacken und den linken Arm gewunden. Im März 1989 wurde ein Mädchen, fünf Monate alt, in seinem Gitterbettchen gebissen. Die Natter ist giftig, wirklich gefährlich ist ihr Toxin aber nur für Kleinkinder. Der Puls des Mädchens schoss in die Höhe, auf 240 Schläge pro Minute, seine Lungen drohten zu versagen. Doch es überlebte, wie bislang alle Kinder. Auch der Junge, der ein halbes Jahr später eingeliefert wurde, hatte Glück. Er habe eine „von Bissen geschwollene Hand“ und „zum Platzen gespannte Haut“, heißt es. Und er sei „cranky“, übellaunig. Nach zwei Tagen schickten die Ärzte ihn wieder nach Hause.

So kann man es nachlesen im Report des U.S. Fish and Wildlife Service, der Naturschutzbehörde. Und so steht es in der „Guam Post“. Manchmal sind die Artikel garniert mit Fotos von Schlangen in Trafohäusern, vom Strom erschlagen, im Maul noch den erwürgten Vogel. Manchmal läuft es für den Lokalreporter richtig gut, und er bekommt viele Schlangen auf einmal vor seine Kamera. Kommentar zum Bild: „Sammlung von 16 jungen Schlangen, abgenommen von einer einzigen Strebe des Schutzzauns am Guam International Airport.“ Dazu eine Notrufnummer: 355-4013.

Es ist ja nicht so, dass man die Schlange allerorten sieht. Man kann sogar tagelang auf Guam sein, ohne sie auch nur ein einziges Mal zu erblicken. Das liegt vor allem in der Natur der Schlange. Sie ist ein scheues Waldtier, und sie lebt erst in der Nacht auf.

Niemand spricht hier gerne über sie. Man will ja die Touristen nicht verunsichern. Doch wer hartnäckig fragt, bekommt eine Antwort. „Oh, Sir, ich darf das ja nicht erzählen“, sagt Mrs. Johnson, Rezeptionistin eines Strandhotels, „aber sie ist überall.“ Auf dem Kissen ihrer Nachbarin etwa, als jene eines Morgens aus dem Bad kam. „Die Schlange lag da und blickte sie an.“ Mrs. Johnson schüttelt sich. „Puuh.“


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mare No. 71

No. 71Dezember 2008 / Januar 2009

Von Maik Brandenburg und Dieter Jüdt

Autor Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, bekam die Natter nur einmal zu Gesicht, in einem Glaskasten der Naturschutzbehörde Guams. „Wirklich kein schöner Anblick“, sagt er. Ihn erschreckten aber mehr die japanischen Touristen, die in der Mittagshitze am Strand joggten – in Skianzügen.

Dieter Jüdt, geboren 1963, Illustrator aus Berlin, ist in der Toskana schon öfter Schlangen begegnet. Eigentlich kein Problem für ihn. Seit ihm aber Einheimische von giftigen Exemplaren erzählten, passt er bei Wanderungen besser auf, wohin er tritt. Man weiß ja nie.

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Vita Autor Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, bekam die Natter nur einmal zu Gesicht, in einem Glaskasten der Naturschutzbehörde Guams. „Wirklich kein schöner Anblick“, sagt er. Ihn erschreckten aber mehr die japanischen Touristen, die in der Mittagshitze am Strand joggten – in Skianzügen.

Dieter Jüdt, geboren 1963, Illustrator aus Berlin, ist in der Toskana schon öfter Schlangen begegnet. Eigentlich kein Problem für ihn. Seit ihm aber Einheimische von giftigen Exemplaren erzählten, passt er bei Wanderungen besser auf, wohin er tritt. Man weiß ja nie.
Person Von Maik Brandenburg und Dieter Jüdt
Vita Autor Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, bekam die Natter nur einmal zu Gesicht, in einem Glaskasten der Naturschutzbehörde Guams. „Wirklich kein schöner Anblick“, sagt er. Ihn erschreckten aber mehr die japanischen Touristen, die in der Mittagshitze am Strand joggten – in Skianzügen.

Dieter Jüdt, geboren 1963, Illustrator aus Berlin, ist in der Toskana schon öfter Schlangen begegnet. Eigentlich kein Problem für ihn. Seit ihm aber Einheimische von giftigen Exemplaren erzählten, passt er bei Wanderungen besser auf, wohin er tritt. Man weiß ja nie.
Person Von Maik Brandenburg und Dieter Jüdt