105 Meilen bis zur Freiheit

Im Sommer 1980 machten sich 125 000 Kubaner auf den Weg ins Exil nach Florida. Sie wurden zu Stützen der Gesellschaft. Unter US-Präsident Trump kocht die Debatte über sie wieder hoch

Jede Stunde des 20. April 1980, als Irela Flores ihre Kindheit verlor, ist unvergessen. Jede Empfindung, jede Geste, alle Geräusche, alle Gerüche. Es war der Tag, als sie sich mit ihrer Familie von Havanna auf den Weg in die USA machte. Einige Tage zuvor, als Gerüchte von den Mauern der Stadt widerhallten, dass Fidel Castro die Ausreise aus Kuba erlaube, hatte ihr Vater allen Mut zusammengenommen und sich in die lange Schlange vor dem Innenministerium gestellt, um die Papiere zu beantragen. Der Kämpfer der Revolution von 1959 hatte als „Politischer“ zwei Jahre eingesessen. Nun schien die Zeit gekommen, sich am undankbaren Máximo Líder zu rächen. Mit der höchsten Strafe, zu der ein Kubaner fähig ist, der Aufgabe seiner Heimat.

Miami, im Frühjahr 2018. Irela Flores, Angestellte in Miami Beachs Stadtverwaltung, sitzt auf dem Designersofa in ihrem gepflegten Vorstadthaus. Jede Stunde ist unvergessen. Und mit jeder Stunde wird ihr Erzählen vom 20. April 1980 bildhafter. Die Polizisten, die mit quietschenden Bremsen vor ihrem Haus in Havanna halten und von den Pick-ups springen; wie sie mit Gewehrkolben gegen die Tür schlagen, die Namen der Familienmitglieder brüllen und sie zum Herauskommen auffordern; wie die Nachbarn sich auf der Straße versammeln und im Chor schimpfen; die leise schluchzende Großmutter in der Küche; der Vater, der fieberhaft nachdenkt; die Mutter, die den Kindern die Münder zuhält. Kein Geräusch soll den Polizisten signalisieren, dass sie zu Hause sind. Irela hört ihr Herz schlagen, dumpf und schnell.

Die Geschichte, die ihr Herz heute wieder hoch schlagen lässt, beginnt 40 Jahre zuvor.

Ende der 1970er suchte US-Präsident Jimmy Carter nach Mitteln, die seit der Kubakrise 1962 vereisten Beziehungen zwischen den Nachbarn aufzutauen. Er hob die Reiseverbote für US-Bürger nach Kuba auf, im September 1977 eröffneten beide Länder informelle diplomatische Vertretungen. Aber mitten in die Verhandlungen über Medikamentenlieferungen nach Kuba kam Spannung: Die UdSSR drängte Kuba, Truppen für Militäroperationen in Afrika zu stellen. Zeitgleich musste sich Carter im Kongress immer heftigerer Kritik an seiner Öffnungspolitik erwehren.

Innerhalb von Tagen wurde aus dem politischen Frühling wieder Winter. Und Irelas Vater kam in Haft – ein Kollege hatte den Ingenieur in einer Papierfabrik wegen einer Castro-kritischen Bemerkung denunziert.

Im Sommer 1979 nimmt ein Drama seinen Lauf, das am Ende ein Kapitel der modernen Fluchtgeschichte sein wird, der Exodus von Mariel.

Mehrere Mal hatten in den Monaten zuvor Kubaner versucht, mit Botschaftsstürmungen ihre Ausreise zu erzwingen. Castro blieb gelassen. Aber der 1. April 1980 ändert alles. Ein Linienbus mit sechs Kubanern fährt durch die Sperren vor Perus Botschaft an der Avenida Quinta im malerischen Villenviertel Miramar. Kubanische Polizisten schießen, ein kubanischer Wachmann stirbt. Der Botschafter Pinto-Bazurco Rittler ist außer sich. Er holt die Flüchtigen ins Botschaftsgebäude und lässt Kubas Außenminister wissen, er werde die sechs nicht überstellen. In der Nacht zum 4. April verhandelt er über das sichere Geleit der Flüchtlinge. Erst drei Tage später entscheidet Castro, unerwartet hart: Botschaften, die nicht kooperieren, werden nicht länger beschützt, die Wachleute von sechs Botschaften abgezogen.

Von alldem ist auf der Insel offiziell nichts zu erfahren. Nur von Mund zu Mund erfahren die Menschen über die Vorgänge in Miramar. Zuerst strömen die Neuigkeiten durch Havannas Straßen, dann fließen sie zusammen zu einer Welle aus Euphorie, Spekulation und Angst, die ganz Kuba überschwemmt.

Am 6. April kampieren 10 000 Menschen in der peruanischen Botschaft, auch Hunderte Kleinkinder, im Garten, in Büros, Konferenzräumen, gedrängt, verängstigt. Die hygienischen Verhältnisse sind chaotisch. Draußen zetteln Castro-Agenten über die Zäune hinweg Schlägereien an, über Lautsprecherwagen verunglimpfen sie die Menschen im Inneren.

Kubas Regierungsmedien beginnen mit einer Kampagne. Radio Progreso sendet unablässig Beiträge, die die Flüchtlinge als Kriminelle, Schmarotzer und Betrüger darstellen, die von der Gesellschaft ausgestoßen gehörten – escoria, „Abschaum“, ist das am häufigsten zu hörende Wort.

In allen Fenstern des Kapitols und des Innenministeriums brennt in diesen Aprilnächten das Licht. Auch das Zentralkomitee der KP tagt rund um die Uhr. Die Regierungen von Bolivien, Kolumbien, Ecuador, Costa Rica und Venezuela kündigen an, insgesamt 5500 Botschaftsflüchtlinge aufzunehmen, Jimmy Carter will 3500 in die USA lassen. Fidel muss reagieren.

Um Druck aus dem Kessel zu lassen, lässt er am 11. April Ausreiseanträge und Reisepässe zur Botschaft bringen. 3000 nehmen das Angebot an und verlassen die Botschaft für die Ausreise. Die übrigen misstrauen Castros Beamten und bleiben. Sie warten auf internationale Kontrolleure. Die gewünschte Wirkung verpufft. Diplomaten geben sich im Außenministerium die Klinke in die Hand und drängen auf eine umfassende Lösung.

Am Morgen des 20. April fährt Castro zum Funkhaus. Was er im Radio sagt, schlägt ein wie eine Bombe, nicht nur in Kuba, auch in Miami, wo Tausende Exilkubaner rund um die Uhr Castros Sender abhören: Alle Kubaner, die das Land verlassen wollen, können dies mit sofortiger Wirkung tun. Die Bedingung: Sie müssen über den Hafen von Mariel, 45 Kilometer westlich von Havanna, ausreisen. Und sie müssen den Transport selbst organisieren.

Irela Flores ist in der Schule, während die Meldung durchs Land jagt.

„Die Direktorin kam in die Klasse und bat mich auf den Schulhof. Dort stand meine Mutter unter dem Mangobaum und weinte. Oma sei etwas zugestoßen, ich müsse nach Hause kommen. Auf dem Weg sprach sie kein Wort, weinte aber nicht mehr. Daheim küsste mich Oma wie üblich auf die Stirn. Sie war wohlauf, Mama hatte geschwindelt. Alle saßen gedrängt ums Radio. Dann sagte Papa leise: ,Packt eure Sachen. Nur das Nötigste. Onkel Paco schickt uns ein Boot. Und Antonio bringt uns am Abend nach Mariel.‘ Dann höre ich die Bremsen quietschen und die Polizisten an die Tür schlagen.“

Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 129. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 129

August / September 2018

Von Karl Spurzem und Tim Chapman

Karl Spurzem, mare-Redakteur, Jahrgang 1959, war beeindruckt von dem Selbstbewusstsein und der Zuversicht der Marielitos, mit denen er in Miami sprach.

Fotograf Tim Chapman, geboren 1950, lebt als Pensionär zurückgezogen auf einem Florida Key, „umzingelt von Alt-Rights, die nichts mehr wissen wollen von den guten alten Werten der USA“.

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Vita Karl Spurzem, mare-Redakteur, Jahrgang 1959, war beeindruckt von dem Selbstbewusstsein und der Zuversicht der Marielitos, mit denen er in Miami sprach.

Fotograf Tim Chapman, geboren 1950, lebt als Pensionär zurückgezogen auf einem Florida Key, „umzingelt von Alt-Rights, die nichts mehr wissen wollen von den guten alten Werten der USA“.
Person Von Karl Spurzem und Tim Chapman
Vita Karl Spurzem, mare-Redakteur, Jahrgang 1959, war beeindruckt von dem Selbstbewusstsein und der Zuversicht der Marielitos, mit denen er in Miami sprach.

Fotograf Tim Chapman, geboren 1950, lebt als Pensionär zurückgezogen auf einem Florida Key, „umzingelt von Alt-Rights, die nichts mehr wissen wollen von den guten alten Werten der USA“.
Person Von Karl Spurzem und Tim Chapman