Zurück im Leben

Nicht selten tauchen Spezies von Tieren auf, die als ausgestorben galten. Solche „Lazarusarten“ sind Glücksfälle für die Wissenschaft. Sie schließen Lücken der Taxonomie und helfen, den Genpool möglichst groß zu halten

Wer sich als Besucher willkommen fühlen will, der sollte Ball’s Pyramid meiden. Mehr als 500 Meter hoch ragt die Felsnadel aus der Tasmansee empor, schon das Anlegen mit einem Boot ist nicht ungefährlich. Trotzdem wagte der australische Biologe Nicholas Carlile eines Nachts im Februar 2001 den abenteuerlichen Aufstieg auf die Miniinsel. Zusammen mit Kollegen wollte er Gerüchten um einen anderen Besucher des Eilands nachgehen: Sollte es tatsächlich noch Exemplare des Baumhummers auf Ball’s Pyramid geben? Fotos einer früheren Expedition legten das nahe.

Dennoch erschien es äußerst unwahrscheinlich. Zum einen, weil der Baumhummer, der zu den Insekten zählt und seinen Namen der äußeren Ähnlichkeit mit dem Meerestier verdankt, üppig bewachsenes Gebiet bevorzugt. Dieses gab es zwar auf der 20 Kilometer entfernten Lord-Howe-Insel, die einst als Heimat des Baumhummers galt. Wie und warum aber sollte ein Insekt, das weder schwimmen noch fliegen konnte, auf den weitgehend kahlen Pyramidenfelsen gelangen? Der entscheidende Einwand jedoch war ein anderer: Der Baumhummer galt seit gut 80 Jahren als ausgestorben. Die letzten Exemplare, so wurde allgemein angenommen, seien einer Ratteninvasion auf der Lord-Howe-Insel zum Opfer gefallen.

Aber die Besuche auf Ball’s Pyramid und molekularbiologische Analysen bestätigten das Unwahrscheinliche: Der Baumhummer lebt. Während Biologen ihn schon tot geglaubt hatten, überdauerten einige Exemplare auf der unwirtlichen Felsnadel im Ozean – wie und warum auch immer sie dorthin gekommen waren. „In diesem Fall haben wir Glück gehabt und die Art nicht für immer verloren“, sagt Alexander Mikheyev vom Okinawa Institute of Science and Technology. Zusammen mit Kollegen hat der Wissenschaftler kürzlich mithilfe von molekularbiologischen Methoden die Identität der Baumhummer von Ball’s Pyramid bestätigt.

Auch wenn sie unverdient sei, würde die Menschheit noch einmal eine Chance bekommen, das Insekt zu retten, so der Wissenschaftler. Mit ein wenig Pathos ließe sich sagen: Der Baumhummer ist von den Toten auferstanden. In Fällen wie seinem scheuen auch Biologen nicht die biblische Analogie und sprechen in Anlehnung an den Mann, den Jesus von den Toten wieder zum Leben erweckt haben soll, von einer Lazarusart. Es sind Spezies, die verschwunden geglaubt waren und dann unerwartet doch wieder auftauchten – wobei „verschwunden“ auch eine Frage der Definition und der zeitlichen Epoche ist.

Heute bestimmt die internationale Naturschutzunion IUCN über den Gefährdungsgrad der Arten und ist auch für die Vergabe des Etiketts „ausgestorben“ zuständig. Ehe die Entscheidung fällt, müssen Forscher sorgfältig, systematisch und erfolglos nach der fraglichen Spezies gesucht haben. In früheren Zeiten dagegen waren die Kriterien weniger klar, und manche technischen Methoden zur Artenidentifizierung, etwa die Erbgutanalyse, standen noch nicht zur Verfügung. Doch selbst wenn man solche Unsicherheiten bedenkt, erstaunt es, wie häufig der Lazaruseffekt im Tierreich vorkommt.

Eine Studie spricht von allein 144 verschwunden geglaubten Vogelarten, die in den vergangenen gut 120 Jahren entgegen allen Erwartungen wieder aufgetaucht sind, die meisten davon seit den 1980er-Jahren. Zwar ändern auch diese Erkenntnisse nichts am beängstigend schnellen Schrumpfen der Biodiversität. Doch immerhin sind sie Inseln guter Nachrichten inmitten eines Meers aus Schreckensmeldungen über den Artenschwund. Und sie lehren, wie erstaunlich anpassungsfähig viele Tiere sind, denen der Mensch das Überleben auf jede erdenkliche Weise schwer gemacht hat.


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mare No. 147

mare No. 147August / September 2021

Von Katrin Blawat und Joel Sartore

Die Münchner Wissenschaftsjournalistin Katrin Blawat, Jahrgang 1982, freut sich über jede überraschend wieder aufgetauchte Art. Erst recht, wenn das Wiedersehen anders abläuft als bei der Laotischen Felsenratte. Sie galt seit Langem als ausgestorben. Dann entdeckten Biologen einige Exemplare der Nager in Laos auf einem Markt – gegrillt. Später konnten sie aber auch noch ein lebendes Exemplar fangen.

Joel Sartore, geboren 1962, US-amerikanischer Naturfotograf in Lincoln, Nebraska, hat sich auf Porträts gefährdeter Tierarten spezialisiert.

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Vita Die Münchner Wissenschaftsjournalistin Katrin Blawat, Jahrgang 1982, freut sich über jede überraschend wieder aufgetauchte Art. Erst recht, wenn das Wiedersehen anders abläuft als bei der Laotischen Felsenratte. Sie galt seit Langem als ausgestorben. Dann entdeckten Biologen einige Exemplare der Nager in Laos auf einem Markt – gegrillt. Später konnten sie aber auch noch ein lebendes Exemplar fangen.

Joel Sartore, geboren 1962, US-amerikanischer Naturfotograf in Lincoln, Nebraska, hat sich auf Porträts gefährdeter Tierarten spezialisiert.
Person Von Katrin Blawat und Joel Sartore
Vita Die Münchner Wissenschaftsjournalistin Katrin Blawat, Jahrgang 1982, freut sich über jede überraschend wieder aufgetauchte Art. Erst recht, wenn das Wiedersehen anders abläuft als bei der Laotischen Felsenratte. Sie galt seit Langem als ausgestorben. Dann entdeckten Biologen einige Exemplare der Nager in Laos auf einem Markt – gegrillt. Später konnten sie aber auch noch ein lebendes Exemplar fangen.

Joel Sartore, geboren 1962, US-amerikanischer Naturfotograf in Lincoln, Nebraska, hat sich auf Porträts gefährdeter Tierarten spezialisiert.
Person Von Katrin Blawat und Joel Sartore