Zähne der Zeit

Von der Antike über Altes Testament bis in heutige Kinderzimmer – stets ist das Einhorn ein begehrtes Symbol des Guten, Edlen. Dass es der Stoßzahn des Narwals ist, wurde erst spät erkannt

Möglicherweise ist es ja tatsächlich so gewesen. Ein junger Maler wird Ende des 15. Jahrhunderts in Paris zum Gesprächsthema der adligen Damenwelt – kein anderer, hieß es, fange Seele und Wesen seiner Modelle so sensibel ein wie er. Und gut sah er aus. Und nie um eine Avance verlegen war er. 

Vorsichtshalber sorgte Jean IV. Le Viste dafür, dass seine bildhübsche ­Tochter nicht zugegen war, als er besagten Maler mit einem Auftrag bedachte: ein sechsteiliger Millefleurs-Wandteppich, wie ihn Frankreich noch nicht gesehen hatte. Gewirkt wurde die Tapisserie in Brüssels legendären Manufakturen, für die Vorlage zeichnete der Maler eine junge Frau, die der Tochter des Auftrag­gebers verblüffend ähnlich sah – die hatte er nämlich längst heimlich getroffen. 

Bekannt geworden ist der Wand­behang dann aber vor allem wegen seines mystischen Hauptdarstellers. Nirgendwo sonst in der europäischen Kunstgeschichte gibt es berühmtere Abbildungen eines Einhorns. Auf einem Ausschnitt der Tapisserie legt das Tier seine Hufe in den Schoß der jungen Frau und sieht sie schmachtend an, wobei sein Horn steil aufgerichtet nach oben zeigt. Bis ans Ende seiner Tage, schreibt die US-Schriftstellerin Tracy Chevalier in ihrem 2003 erschienenen Roman „The Lady and the Unicorn“, habe der gestrenge Vater Jean IV. Le Viste die Anspielung nicht verstanden.

Möglicherweise ist es ja tatsächlich so gewesen – ganz bestimmt aber hat kein anderes Wesen die Kunst des europäi­schen Mittelalters und der Renaissance so spektakulär bevölkert wie das Einhorn. Abgesehen von Engeln und Drachen vielleicht, die mit dem Einhorn gemein hatten, dass niemand jemanden kannte, der sie tatsächlich einmal mit eigenen Augen gesehen hatte. 

Dennoch stand über viele Jahrhunderte außer Frage, dass das Tier mit dem Horn existierte, schließlich gab es ja Beweise zuhauf. Die Bildnisse zum Beispiel, die Raffael, Moretto und da Vinci gemalt hatten; und all die Berichte – selbst in der Bibel wurde es erwähnt. Und gelegentlich tauchte ja auch sein Horn auf. Könige ließen es von ihren besten Handwerkern zu Schwertgriffen verarbeiten, mächtige Fürsten führten es als Zeichen ihrer Macht im Wappen. Dass die allermeisten Einhornhörner Narwalzähne waren (und die anderen von Antilopen stammten), wusste man damals nicht. Die Frage war nie, ob das fabelhafte Tier tatsächlich existierte – die Frage lautete immer nur, wo man es finden konnte. Und wie es sich fangen ließe, um an sein Horn zu kommen. Zu Pulver zerstoßen galt das Horn nämlich auch als Heilmittel gegen Krankheit, Übel und Vergiftungen aller Art. Außerdem, glaubten die Alchemisten, helfe es dabei, unedle Stoffe in edle zu verwandeln. 

Das Licht der Welt erblickte das Einhorn vermutlich mit griechischer Hilfe. Der Geschichtsschreiber Ktesias von Knidos fabulierte in seiner „Indiká“ bereits um 400 vor Christus von der wundersamen Fauna Indiens, wo mächtige Greife Goldschätze bewachten, Hundsköpfige ihr Unwesen trieben und ein pferdeähnliches Tier mit großem Horn lebte. „In Indien gibt es wilde Esel, die genauso groß sind oder sogar noch größer als Pferde. Ihre Körper sind weiß, ihre Köpfe dunkelrot, ihre Augen dunkelblau. Sie haben ein Horn von etwa anderthalb Fuß Länge auf der Stirn.“ 

Eine solche Steilvorlage wurde in den folgenden Jahrhunderten natürlich aufgegriffen. Der römische Gelehrte Plinius der Ältere beschrieb das Einhorn in seiner „Historia naturalis“ um 77 nach Chris­tus als Tier, „das sonst am Körper dem Pferde, am Kopf aber dem Hirsch, an den Beinen dem Elefanten, am Schwanz dem Eber ähnlich ist, dumpf brüllt, während ein zwei Ellen langes schwarzes Horn mitten auf der Stirne hervorragt. Lebend soll sich dieses Wild nicht fangen lassen“. 

Um wirklich populär zu werden, benötigte das Einhorn allerdings fromme Hilfe. Die lieferten um 250 vor Christus die Übersetzer der Septuaginta, der ältes­ten durchgehenden Übertragung der hebräisch-aramäischen Bibel ins Altgriechische. Die Schriftgelehrten machten aus dem hebräischen re’em (Auerochse) versehentlich an verschiedenen Stellen ein monókeros (Einzelhorn), was niemand bemerkte. Auch nicht der oder die Verfasser des „Physiologus“, einer frühchristlichen Naturlehre, die im Mittelalter in alle Volkssprachen übertragen wurde: „Es ist ein kleines Tier, ähnlich einem Böcklein, aber sehr hitzig: Ein Jäger kann sich ihm nicht nähern, weil es sehr stark ist; es hat aber ein Horn mitten auf seinem Kopf. Wie wird es nun gefangen? Eine reine, schön gekleidete Jungfrau setzen sie vor ihm nieder, und es springt ihr auf den Schoß, und die Jungfrau nährt das Tier und bringt es dem König in den Palast.“


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mare No. 159

mare No. 159August / September 2023

Von Stefan Nink

Erst seit dieser Recherche fällt dem Mainzer Autor Stefan Nink, Jahrgang 1965, auf, wie viele Einhörner durch die Welt galoppieren. Selbst in einem nord­eng­lischen Pub wurde er neulich von einer Reproduktion der berühmten Tapisserie begrüßt.

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Vita Erst seit dieser Recherche fällt dem Mainzer Autor Stefan Nink, Jahrgang 1965, auf, wie viele Einhörner durch die Welt galoppieren. Selbst in einem nord­eng­lischen Pub wurde er neulich von einer Reproduktion der berühmten Tapisserie begrüßt.
Person Von Stefan Nink
Vita Erst seit dieser Recherche fällt dem Mainzer Autor Stefan Nink, Jahrgang 1965, auf, wie viele Einhörner durch die Welt galoppieren. Selbst in einem nord­eng­lischen Pub wurde er neulich von einer Reproduktion der berühmten Tapisserie begrüßt.
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