Wo die Menschlichkeit strandete

Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs ermorden SS-Soldaten, in Angst vor der herannahenden Roten Armee, beim Küstenort Palmnicken Tausende Juden. Es ist ein wenig erzählter Höhepunkt des Nazi-Vernichtungswahns und ein Tiefpunkt des Humanums

Es war ein bitterkalter Tag, der 26. Januar 1945. Ich werde dieses Datum nie vergessen. Wir hatten eine dreckige Decke, Holzschuhe und einen Lumpen, den man Kleid nannte. Wer nicht mehr weiterlaufen konnte und hinfiel, wurde auf der Stelle erschossen. Meine Schwester Gita konnte nicht mehr. Sie flehte uns an, sie zurückzulassen, sodass sie mit Mutter zusammen sein konnte. Sie fiel hin und wurde ermordet. Sie hatte Durchfall und war furchtbar schwach. Als wir weiterliefen, schlug mich eine der Wachen mit dem Gewehr. Ich spürte Hände, ich wurde mitgeschleppt, aber ich war unter Fremden und hatte meine jüngere Schwester Breindl verloren. Ich habe sie, die 18-jährige Breindl, nie wiedergesehen“, erinnert sich Maria Salz, verheiratete Blitz, noch 55 Jahre später genau. Die Mutter Scheindl war wenige Wochen zuvor in Auschwitz ermordet worden.

Ende Januar 1945. Bei heulendem Sturm und Schneegestöber, Geschützdonner und dem Dröhnen sowjetischer Tieffliegerangriffe liegen die Temperaturen um die 20 Grad unter null. In Ostpreußen sind Hunderttausende deutsche Zivilisten, meist Kinder, Frauen und Alte, mit Pferd und Wagen auf der überstürzten Flucht vor der Roten Armee. Gleichzeitig treibt die SS zwischen 5000 und 7500 jüdische Häftlinge, vor allem Frauen aus Polen und Ungarn, von Königsberg an die Ostseeküste bei Palmnicken. Flüchtlinge und Häftlinge laufen aneinander vorbei. Den Todesmarsch und das anschließende Massaker überleben wohl nur 18 von ihnen. Eine ist Maria Salz, geboren 1918 in Krakau. Sie verliert auf diesem Leidensweg ihre Schwestern Gita und Breindl sowie ihre Schwägerin Freida. Sie gehören zu den bis zu 2500 Ermordeten, deren Leichen die 50 Kilometer von Königsberg durch das südliche Samland bis Palmnicken säumen. Palmnicken, berühmt durch den weltweit einzigartigen Bernsteintagebau, steht wie kaum ein anderer Ort für den nationalsozialistischen Vernichtungswahn noch in der Niederlage, während des Untergangs der deutschen Provinz Ostpreußen. Zwischen 1939 und 1944/45 erschießen SS-Einheiten vor allem auf polnischem und sowjetischem Gebiet insgesamt etwa zwei Millionen jüdische Kinder, Frauen und Männer. Ende Januar 1945 kommt es in Palmnicken zu einem Massenmord, nicht irgendwo im Osten, sondern auf Reichsgebiet.

Im Herbst 1944 ist die Lage an der Ostgrenze des Deutschen Reiches aussichtslos. Die Rote Armee hat seit dem Sieg von Stalingrad im Januar 1943 die Wehrmacht immer weiter gen Westen getrieben. Deutschland rüstet zur Abwehrschlacht gegen den „Ansturm der Steppe“, wie es Propagandaminister Goebbels in seiner Rede zum „totalen Krieg“ genannt hat. Die Militärführung reagiert mit dem überstürzten Bau von Verteidigungsanlagen wie Panzergräben und Feldflugplätzen in Ostpreußen. Aus diesem Grund erlässt der Kommandant des KZ Stutthof, SS-Sturmbannführer Paul Werner Hoppe, am 21. September einen Sonderbefehl über die Einrichtung der Außenarbeitslager Gerdauen, Schippenbeil, Jesau, Heiligenbeil und Seerappen. In jedem der Lager sind um die 1000 jüdische Häftlinge untergebracht. Maria Salz wird am 16. Oktober 1944 in das Lager Heiligenbeil überstellt. Kurz darauf stehen die Russen bereits im Deutschen Reich, in Ostpreußen. Als Stalins Rote Armee Mitte Januar 1945 mit ihrer Großoffensive beginnt, evakuieren SS-Einheiten die ostpreußischen Außenkommandos Stutthofs am 20./21. Januar 1945 in panischer Hast. Bei eisiger Kälte und Schneetreiben werden die Gefangenen in dürftiger Sommerbekleidung und Holzschuhen nach Königsberg getrieben.

Die Hauptstadt der Provinz Ostpreußen ist seit dem englischen Bombenfeuersturm Ende August 1944 ein Trümmerfeld. Die Gefangenen kommen in zwei stillgelegten Fabriken und einer Kaserne unter. Bei einem Appell am 25. Januar werden für ganz Königsberg 13 000 Lagerhäftlinge gezählt. Im Lauf des 26. Januars 1945 stoßen sowjetische Panzerspitzen bis zur samländischen Ostseeküste und bis Elbing vor. Ostpreußen ist fortan vom übrigen Deutschland abgeschnitten. Am selben Tag stellt die SS eine Kolonne von mindestens 5000, möglicherweise bis zu 7500 Gefangenen aus allen drei Königsberger Lagern zu- sammen. Eskortiert wird sie von 120 bis 150 Angehörigen der Organisation Todt, der viele angehören, die kaum Deutsch sprechen: Ukrainer, Letten, Litauer, Esten, Belgier und wohl auch Franzosen, geführt von etwa 25 deutschen SS-Leuten. In der trügerischen Hoffnung, per Schiff nach Westen zu gelangen, setzt sich der Zug vom Nordbahnhof in Bewegung.

Viele Königsberger werden Zeugen des Geschehens. Gert Herberg, Luftwaffenhelfer in der Flakbatterie „Goldschmiede“, sieht „den langen Zug elender Gestalten, in Lumpen gehüllt, mühselig in Richtung Samland marschierend. Alle 20 bis 30 Meter wurden einige von ihnen, die nicht mehr gehen konnten und sich erschöpft in die Arme fielen, von SS-Bewachern mit Maschinenpistolen niedergestreckt“. Auch als der Todesmarsch am 26. und 27. Januar durch die Dörfer des Samlands zieht, gibt es Hunderte Zuschauer. Der damals 13-jährige Wilfried Eggert: „Meine Tante und ihre Tochter standen schreckensbleich an der Straße und fanden keine Worte. Die Anzahl der Toten war so groß, dass ich die genaue Zahl nicht nennen kann. Auf dieser kurzen Strecke, circa drei bis vier Kilometer, waren es schätzungsweise 300 bis 400 Tote.“ Siegfried Pirags, damals zehn Jahre alt, beobachtet „zwei große, von Pferden gezogene Leiterwagen, wie sie eigentlich nur zur Erntezeit Verwendung finden, voll beladen mit steif gefrorenen Leichen“. Gelähmt vor Entsetzen, starren sein Bruder und er auf die Ladung. „Hoch aufgeschichtet Leichen – wie Brennholz aufgeschichtete Leichen, Leichen. Tote, deren Beine am Ende des Wagens hinausragen. Blutige, zertrümmerte Schädel, grauenhafte Gesichter starren zwischen den Sprossen die Kinder an. Und vorn auf den Wagen sitzen die Kutscher auf der grauenvollen Ladung des Palmnicker Leichenräumkommandos.“


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mare No. 94

No. 94Oktober / November 2012

Von Uwe Neumärker

Der Ostberliner Uwe Neumärker, Jahrgang 1970, ist Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Er hat Palmnicken als ersten von 220 Schauplätzen europaweiter NS-Verbrechen in den „Raum der Orte“ unter dem Stelenfeld des Berliner Denkmals aufgenommen und 2010 Maria Blitz’ Erinnerungen Endzeit in Ostpreußen. Ein beschwiegenes Kapitel des Holocaust herausgegeben.

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Vita Der Ostberliner Uwe Neumärker, Jahrgang 1970, ist Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Er hat Palmnicken als ersten von 220 Schauplätzen europaweiter NS-Verbrechen in den „Raum der Orte“ unter dem Stelenfeld des Berliner Denkmals aufgenommen und 2010 Maria Blitz’ Erinnerungen Endzeit in Ostpreußen. Ein beschwiegenes Kapitel des Holocaust herausgegeben.
Person Von Uwe Neumärker
Vita Der Ostberliner Uwe Neumärker, Jahrgang 1970, ist Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Er hat Palmnicken als ersten von 220 Schauplätzen europaweiter NS-Verbrechen in den „Raum der Orte“ unter dem Stelenfeld des Berliner Denkmals aufgenommen und 2010 Maria Blitz’ Erinnerungen Endzeit in Ostpreußen. Ein beschwiegenes Kapitel des Holocaust herausgegeben.
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