Wo der Wind wohnt

Die Ufer der Magellan-Straße sind unwirtlich und leer. Nur wetterfeste Pioniere finden hier ihre Heimat

Wie wohnt es sich an der Magellan-Straße, Señor Clodomiro Ascensio? Pah. Als ob er darauf eine Antwort wüsste, eine Antwort auf das Offensichtliche. Ist es hier nicht immer stürmisch und unwirtlich ? Steinig? Unfruchtbar ? Gibt es nicht unweit entfernt ein schlichtes Stahlkreuz, Mahnmal für den ersten grausam fehlgeschlagenen Siedlungsversuch der Europäer an der Magellan-Straße? Jesus-Stadt hieß der Ort, und alle Einwohner sind verhungert. Also?

Clodomiro trägt eine Taucherbrille und eine rote Lederkappe gegen den ewigen Patagonienwind, und trotzdem hat der alte Mann rote Augen, die ständig tränen. Der Wind kann aber auch fauchen hier! Er besitzt drei Radios, eine Autobatterie, einen Quadratmeter Solarzellen, ein grünes Klohäuschen, ein kleines Holzboot und eine Pension von 256 664 chilenischen Pesos monatlich, immerhin über 800 Mark, denn früher einmal war Señor Clodomiro Ascensio Korporal bei der Marine, aber das war ein anderes Leben. Seit 30 Jahren wohnt der alte Mann, wo eigentlich niemand wohnen kann: im Nichts. Und dieses Nichts heißt Cabo Dungeness und ist der östlichste Zipfel Chiles, die Einfahrt zur Magellan-Straße, der Arsch der Welt - 52 Grad 23 Süd, 68 Grad 26 West.

Clodomiros nächste Nachbarn, so etwa einen Kilometer entfernt, sind drei blutjunge Marinesoldaten, die auf ihrem Leuchtturm den Schiffen die Einfahrt in die Magellan-Straße weisen. Einen Steinwurf entfernt liegt die Grenze zu Argentinien.

Zu Nachbarn hat er auf argentinischer Seite etwa 150 000 Pinguine, die aber nie zu Besuch kommen, als ob sie wüssten, dass man Grenzen nicht so einfach überschreitet. Zu Nachbarn hat er das Meer, den Sturm und eine trostlose, fahle Pampa, an die sich kleine Moose krallen. Zu Nachbarn hat er kalte Riesenwellen, einen schiefergrauen Himmel und ein neugieriges Stinktier, das ihn täglich besuchen kommt, und dann stinkt es tatsächlich in seiner Hütte, das aber stört ihn nicht.

Braucht er Brennstoff, geht er an den Strand und sammelt Schwemmholz. Die Männer auf den Ölplattformen in der Magellan-Straße schmeißen ja genug Kisten in die See. Braucht er etwas zu essen, schiebt er sein Boot in einen Wasserarm, der Río Tiburon heißt, und kontrolliert seine Stellnetze. Manchmal kommen die Leute sogar aus dem argentinischen Río Gallegos und kaufen ihm seinen Fang ab, nach 30 langen Jahren am wilden Atlantik hat man so seinen Ruf als Fischer.

Clodomiro wohnt also hier, weil er hier wohnen will, er liebt diesen Ort, er braucht ihn, er wollte immer schon am Cabo Dungeness wohnen, an dem eigentlich niemand wohnen kann, höchstens Pinguine. Warum hier ? Er ist mal auf einem Marineboot am Leuchtturm von Cabo Dungeness vorbeigefahren - da hatte es ihn gepackt.

Mein Platz, ist es ihm vor 30 Jahren glücklich durch den Kopf geschossen, und es wurde sein Platz, und nun wird er hier bald sterben, wie seine Frau und seine Tochter hier vor langen Jahren gestorben sind. Darum will er nicht weg. Darum kann er nicht weg. Ein kleines Altärchen steht am Wegesrand, mit einer bunten Marienfigur davor. Ertrunken in der Magellan-Straße, die Mutter wollte die Tochter retten, und schwupps waren sie beide weg.

Clodomiro sitzt am Tischlein in seiner Hütte. Die wackelt im Brausen. Clodomiro blickt durch die offene Tür. Draußen spielt der Wind verrückt und hechelt über das Ersatzteillager da, denn so eine Hütte will erhalten werden, und er treibt den Regen vor sich her. Der peitscht wie ein Pferdeschweif an die Budenwände. Im Sommer und im Winter.

Diese Magellan-Straße. Fast vergessen und weit, weit weg. Wo liegt sie ? Sie trennt zwei mythische Länder, in denen riesengroße Menschen Hundeköpfe tragen und ihre Walfische am Strand skelettieren und Füße haben, so groß wie Schneeschuhe: Patagonien. Und auf der anderen Seite der Wasserstraße brennen allewiglich tausend Feuer am Strand: Feuerland. So jedenfalls stellten sich die Zeitgenossen Magellans dieses verlorene Stück Welt vor und versahen ihre schemenhaften Neue-Welt-Karten mit allerlei Unholden.


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mare No. 25

No. 25April / Mai 2001

Von Volker Handloik und Thomas Hoepker

Volker Handloik, geboren 1961 in Rostock, ist freier Journalist in Berlin. In mare No. 12 schrieb er über die Hafenstadt Triest.

Thomas Hoepker, Jahrgang 1936, war von 1987 bis 1989 Artdirector des Magazins Stern. Seither ist er Mitglied der Fotoagentur Magnum und lebt in New York. Dies ist seine erste Arbeit für mare.

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Vita Volker Handloik, geboren 1961 in Rostock, ist freier Journalist in Berlin. In mare No. 12 schrieb er über die Hafenstadt Triest.

Thomas Hoepker, Jahrgang 1936, war von 1987 bis 1989 Artdirector des Magazins Stern. Seither ist er Mitglied der Fotoagentur Magnum und lebt in New York. Dies ist seine erste Arbeit für mare.
Person Von Volker Handloik und Thomas Hoepker
Vita Volker Handloik, geboren 1961 in Rostock, ist freier Journalist in Berlin. In mare No. 12 schrieb er über die Hafenstadt Triest.

Thomas Hoepker, Jahrgang 1936, war von 1987 bis 1989 Artdirector des Magazins Stern. Seither ist er Mitglied der Fotoagentur Magnum und lebt in New York. Dies ist seine erste Arbeit für mare.
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