Wirkt wie Viagra

Seepferdchen sind auch ein Wirtschaftsfaktor – als wichtige Zutat fernöstlicher Arznei

Ein Pferdekopf und eine Trompeten-Schnute und dann noch aufrecht durch die Wellen entgegen allen marinen Modeströmungen – solch ein Wesen birgt ein Geheimnis. Das Geheimnis des Seepferdchens ist seine wundertätige Heilkraft.

Die antiken Ärzte Europas glaubten das, wie auch die chinesischen aller Dynastien. Nichts, was dieses götternahe Tier – in der griechischen Mythologie war es der direkte Nachfahre jener Rösser, die Poseidons Streitwagen zogen – nicht heilen konnte. Geröstet kurierte es von zu viel oder zu wenig Harndrang, ertränkt in Rosenöl erlöste es von Fieberschauern, es machte immun gegen verschiedene Schlangen- und Fischgifte sowie die Bisse tollwütiger Hunde. Doch seine Asche, vermischt mit Wein, galt ihnen als ein töd-liches Liquid.

Der Pferdekopf: Ein zerbröseltes Stück der Haut, schon galoppierte der eben noch Rheumakranke wie ein junges Fohlen. Das Maul: Ein Sud aus gekochten Seepferdchen, gemixt mit Wasser, gab dem Asthmatiker die Luft für tausend Fanfaren. Der Schwanz: Eine Peitsche, die jeden Nierenstein zertrümmerte, man musste sie nur ordentlich kauen. Gegen Prostatabeschwerden half eine alkoholische Lösung aus gelben Seepferdchen. Gegen Impotenz mussten es schwarze Tierchen sein.

Und auch die andere Geißel des Mannes kam gegen diese Wunderfische nicht an. Plinius der Ältere überlieferte ein Rezept gegen Glatzköpfigkeit: Man nehme den verbrannten Rest eines Hippocampus, dazu Sodawasser nebst Schweineschwänzen, und verrieben auf der obersten Ödnis, sprießt neues Haar. Aus der Seepferdchen-Asche stieg neue Lockenpracht auch, wenn sie mit flüssigem Pech, Talg und Majoran-Öl addiert ward. Nur musste dieses Zeug getrunken werden.

Noch bis ins 18. Jahrhundert gehörten die Seepferdchen in jede Hausapotheke. „Die Damen verwenden sie, um ihren Milchfluss zu steigern“, notierte 1753 das „Gentleman’s Magazine“ in England. Selbstredend heilte es auch Unfruchtbarkeit. Warum es in Europa trotzdem in Vergessenheit geriet, ist unklar. In China und angrenzenden Ländern sind Seepferdchen bis heute so unverzichtbar wie hier zu Lande Kopfschmerztabletten.

Nach Ansicht der Meeresbiologin Amanda Vincent fanden sie erst vor rund 600 Jahren Eingang in die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM). Doch es gibt Vermutungen, die ihren ersten Gebrauch weit vor die heutige Zeitrechnung datieren. Eine kühne Theorie sieht die Figur des Springers beim Schachspiel sogar dem Seepferdchenkopf nachempfunden – weil im Reich der Mitte zur Zeit der Erfindung des Schachs echte Pferde noch gar keine Bedeutung gehabt hätten, Seepferdchen aber wohl.

„Der Norden gehört dem Ginseng, der Süden dem Seepferdchen“, lautet eine Erkenntnis der chinesischen Yin- und Yang-Jünger. Ist die Zauberwurzel der Wundertäter an Land, scheinen Seepferdchen ihr im Meer gewachsenes Pendant. Sie verlängern das menschliche Leben an sich und sein Liebesleben im Besonderen. Sie wirken gegen Mattigkeit und Nervosität, gegen Herz- und Kreislaufkrankheiten, gegen Nieren- und Leberleiden, gegen Hautausschlag und Atemwegsprobleme.

Nicht immer bedarf es der Indikation eines Arztes. An chinesische Marktstände sind Zettel gepinnt, auf denen die Seepferdchenextrakte als häusliches Stärkungsmittel gepriesen werden: „Mixe Honig mit Seepferdchen und Seeschlange und röste den Brei über kleinem Feuer zu Pulver. Füge zehn Gramm Ginseng und rote Oliven in Reiswein hinzu. Dann gib das Pulver hinein und mische alles.“ Taiwanesische Fischer indes schwören auf den kurzen Prozess: Sie kappen die Schwanzspitze eines Seepferdchens und saugen es einfach aus.

Rund 20 Millionen Tiere, schätzt der World Wide Fund for Nature (WWF), werden so jährlich verpulvert, zerrieben, geröstet, gekocht oder roh verzehrt. Ein kleiner Teil von ihnen gelangt in die Aquarien, um zumeist auch dort wegen ihrer empfindlichen Natur rasch einzugehen. Viele enden als Schlüsselanhänger mit einem Ring durch die Augen, als niedliche Mobiles in unzähligen Kinderzimmern oder als getrocknete Glücksbringer und Modeschmuck.

Den weitaus größten Teil jedoch – rund 16 Millionen Stück – verarbeitet die TCM in China, Hongkong, Taiwan, Singapur sowie den chinesischen Gemeinden weltweit. Dazu gehören auch verwandte Volksmedizinen wie die koreanische „hanyak“, die japanische „kanpo“ oder die Jamu-Medizin Indonesiens. Womöglich ist die Dunkelziffer weit höher – lediglich Taiwan veröffentlichte bislang einschlägige Handelsstatistiken. Mehr als 30 Staaten von Australien bis Ecuador jedoch sind an den globalen Transaktionen beteiligt.


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mare No. 21

No. 21August / September 2000

Von Maik Brandenburg

Maik Brandenburg, 1962 auf Rügen geboren, ist freier Reporter für den Stern und pendelt zwischen Berlin und Sassnitz.

Die Recherche für diesen Text gestaltete sich unerwartet schwierig: In Deutschland gibt es kaum Experten, die sich mit dem Seepferdchen beschäftigen, und keine Lobby, die seine Interessen schützt

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Vita Maik Brandenburg, 1962 auf Rügen geboren, ist freier Reporter für den Stern und pendelt zwischen Berlin und Sassnitz.

Die Recherche für diesen Text gestaltete sich unerwartet schwierig: In Deutschland gibt es kaum Experten, die sich mit dem Seepferdchen beschäftigen, und keine Lobby, die seine Interessen schützt
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Vita Maik Brandenburg, 1962 auf Rügen geboren, ist freier Reporter für den Stern und pendelt zwischen Berlin und Sassnitz.

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