„Wir laufen Gefahr, in eine Diktatur zu schlittern“

Mohamed Nasheed, erster frei gewählter Präsident der Malediven, wurde vor fünf Jahren von einer einflussreichen Oligarchenclique aus dem Amt gedrängt. Seither kämpft der Meereswissenschaftler und Menschenrechtler um die dortige Demokratie.

Im Juni 2012 haben wir uns schon einmal unterhalten. Damals haben Sie auch über Mohammed Waheed Hassan berichtet, der Sie nach Ihrem mehr oder weniger erzwungenen Rücktritt als Präsident der Malediven abgelöst hat und enge Verbindungen zu Husni Mubarak, Ägyptens früherem Präsidenten, unterhielt. Ich habe Sie auf Ihrer aktuellen Kampagne begleitet, und dabei ist mir aufgefallen, wie viele junge Leute sich von Ihnen angesprochen fühlen. Selbst Kinder waren unter den Menschen, die spontan zusammenkamen. Das erinnert von fern an die Vorgänge in Ägypten. Halten Sie eine ähnliche Entwicklung auch auf den Malediven für denkbar?

Nasheed: Auf den Malediven interessieren sich zunehmend mehr Menschen für Politik, auch die sogenannten einfachen Leute, und sie wollen die Zukunft ihres Landes mitgestalten. Das wachsende Interesse trifft inzwischen erfreulicherweise auf Strukturen, die ihnen die Teilhabe ermöglicht. Dieser Prozess hat vor allem in den letzten vier, fünf Jahren statt- gefunden. In der Hauptsache sind es Frauen, die sich jetzt politisch engagieren. Sie stellen das Gros der Mitglieder und Unterstützer der Maledivischen Demokratischen Partei, auf Kundgebungen und Veranstaltungen bilden sie die Mehrheit. Ich denke, das ist ein gutes Zeichen, und es stärkt uns für die Arbeit, die vor uns liegt. Wir müssen das Land wieder auf Kurs bringen, wir brauchen Neuwahlen und eine Regierung, die vom Volk legitimiert ist.

Sie haben über die politische Lage in Bangladesch einmal gesagt, dass zwischen der sozialdemokratischen Ministerpräsidentin Hasina Wajed und ihrer nationalkonservativen Amtsvorgängerin Khaleda Zia, den beiden wichtigsten politischen Kräften des Landes, kaum ein Unterschied sei, weil beide vor allem eigene Interessen verfolgten. Wie stellt sich das auf den Malediven dar? Ist die Situation vergleichbar?

Es gibt so viele politische Parteien, aber nur wenige politische Richtungen. Im Grunde sind es nur drei: rechts, links und eine Mitte. Man kann sich entscheiden, ob man für dieses oder jenes ist oder gegen dieses oder jenes. Was es nicht gibt, sind 27 verschiedene Einstellungen zum Leben, zur Gesellschaft, zur Regierung und zur Politik. Aber fast so viele Parteien gab es zwischenzeitlich auf den Malediven, und zwar vor allem, weil Einzelpersonen – und hier zeigen sich bis heute die Folgen des Feudalismus, der Aufteilung in Herr und Knecht – ihre Partikularinteressen vertreten sehen wollen und deshalb eine Partei gründen. Die Menschen müssen annehmen, dass Parteien nur aus diesem Grund entstehen und nur diesen Zweck verfolgen. Die Parteien selbst drehen sich tatsächlich um das Wohl Einzelner und haben weder Strukturen noch ein politisches Programm oder die Absicht, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Zurzeit ist zu beobachten, dass die Menschen solche Parteien immer weniger attraktiv finden. Das Parlament hat reagiert und mehrere kleinere Parteien aufgelöst: Eine Partei, die in den Genuss staatlicher Förderung kommen will, muss mindes­tens 10 000 Unterstützer nachweisen. Von einst 16 Parteien sind heute noch vier übrig, aber das bedeutet nicht, dass besagte Leute ihre Macht eingebüßt hätten. Sie geben auf vielfältige Weise weiterhin den Ton im Land an, obwohl sie in der Bevölkerung keinerlei Rückhalt haben. Dafür kontrollieren sie zum Beispiel den Obersten Gerichtshof, was es ihnen ermöglichte, das Verbot der ihnen gewogenen Parteien zu verhindern. Unter diesem Einfluss hat sich der Oberste Gerichtshof verselbstständigt und der parlamentarischen Kontrolle weitgehend entzogen. Das Parlament wird also immer unwichtiger. Der Oberste Gerichtshof besteht aus nur sieben Richtern, trotzdem hat er sich zur ersten Macht im Staat entwickelt.

Was sind mögliche Folgen dieser Entwicklung?

Wir laufen Gefahr, in eine Diktatur zu schlittern, sei es unter Führung des Obersten Gerichtshofs oder einer Einzelperson, der Polizei oder Putschisten aus den Reihen der nationalen Sicherheitskräfte MNDF [Maldivian National Defence Force, die Red.]. Während wir mit unserer Kampagne durchs Land ziehen und für Neuwahlen werben, nehmen die autoritären Tendenzen und Vorfälle zu. Ich bin nicht sicher, worauf die Entwicklung letztlich hinauslaufen wird: freie Wahlen oder Diktatur. Wir sind auf vielfältige Art und Weise bemüht, darauf hinzuwirken, dass die unrechtmäßige Übernahme der Macht im Zug des gewaltsamen Umsturzes nicht das letzte Wort ist, sondern in freien Wahlen eine demokratische Regierung gewählt wird. Die internationale Staatengemeinschaft hat den Umsturz vor eineinhalb Jahren jedoch gewissermaßen legitimiert, weil sie nicht protestiert und die Regierung, die daraus hervorging, anerkannt hat. Damit hat sie sich auch der Möglichkeit beraubt, auf die derzeitigen Machthaber Einfluss auszuüben. Ich gebe allerdings zu, dass die Chancen dazu ohnehin nicht groß waren, weil die Machthaber auf die Meinung der internationalen Staatengemeinschaft nicht viel geben. Sie sind wild entschlossen, ihre Interessen durchzusetzen, und sei es durch eine Herrschaft des Militärs. Dessen ungeachtet setzen wir unsere friedliche Kampagne fort. Wir wollen freie Wahlen erreichen. Ich bin nicht sicher, wie es ausgehen wird, aber wir geben nicht auf und tun alles dafür, wählen zu dürfen.

Aus dem Englischen von Rudolf Mast.


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mare No. 98

No. 98Juni / Juli 2013

Ein Interview von Shahidul Alam

Shahidul Alam, Jahrgang 1955, lebt und arbeitet in Dhaka, Bangladesch, als Fotograf, Autor und Menschenrechtsaktivist. Er promovierte in Chemie an der Universität von London, ehe er zur Fotografie und in den Journalismus wechselte. Er gründete Drik Picture Library, die erste Fotoagentur in Bangladesch, und den ersten E-Mail-Dienst des Landes.

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Vita Shahidul Alam, Jahrgang 1955, lebt und arbeitet in Dhaka, Bangladesch, als Fotograf, Autor und Menschenrechtsaktivist. Er promovierte in Chemie an der Universität von London, ehe er zur Fotografie und in den Journalismus wechselte. Er gründete Drik Picture Library, die erste Fotoagentur in Bangladesch, und den ersten E-Mail-Dienst des Landes.
Person Ein Interview von Shahidul Alam
Vita Shahidul Alam, Jahrgang 1955, lebt und arbeitet in Dhaka, Bangladesch, als Fotograf, Autor und Menschenrechtsaktivist. Er promovierte in Chemie an der Universität von London, ehe er zur Fotografie und in den Journalismus wechselte. Er gründete Drik Picture Library, die erste Fotoagentur in Bangladesch, und den ersten E-Mail-Dienst des Landes.
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