Wir Kinder von Gomera

Seit den 1970er-Jahren ist La Gomera das Sehnsuchtsziel von Aussteigern aus aller Welt, vor allem aber aus Deutschland. Hier suchten und fanden sie Ruhe, Heilung oder Raum für ihren alter­nativen Lebensstil. Aber was ist aus ihren Kindern geworden?

Der Atlantik liegt ruhig an diesem Tag. Über dem Meer gleißt die Frühjahrssonne, das Wasser strahlt in klarem Blau, so klar, dass die Umrisse der Felsen noch in einigen Meter Tiefe zu erkennen sind.

Die Bucht heißt El Clavito und liegt rund einen Kilometer vom Sandstrand des Hafenstädtchens Vueltas mit seinen Geschäften, Bars und Restaurants entfernt. Einige hundert Meter weiter endet die Schotterpiste, dahinter liegt die „Schweinebucht“, nur über einen steinigen Pfad zu erreichen; das ist jene Bucht, in deren Höhlen seit den 1970ern Aussteiger, viele von ihnen aus Deutschland, Unterschlupf und Zuflucht vor dem bürgerlichen Leben suchten. Seit einigen Jahren räumt die Polizei immer wieder die Höhlen und vertreibt deren Bewohner.

Samstagnachmittag im Valle Gran Rey, einem abgelegenen Tal mit einem Dutzend Dörfer auf der abgelegenen Kanareninsel La Gomera. Die Wintersaison, in der vor- wiegend deutsche Urlauber das Tal bevölkern, geht zu Ende. Erst im Sommer kommen spanische Touristen vom Festland, bis dahin ist es besonders ruhig in dem selbst während der Saison eher ruhigen Tal.

 

 

El Clavito hat keinen Strand, Sand gibt es hier keinen. In den Stein gehauene rohe Stufen führen hinab auf einen Felsvorsprung rund einen Meter über der Wasseroberfläche, der immer wieder von einer Welle überspült wird. Die letzten Stufen enden im Meer. Auf halbem Weg zum Meer steckt ein grüner Sonnenschirm zwischen den Steinen. Unter dem Schirm und auf den umliegenden Felsen sitzen oder liegen neun Jungs und Mädchen zwischen 13 und 17 Jahren. Die Jungs und Mädchen lachen, trinken, plaudern, manche liegen sich in den Armen, küssen sich. Immer wieder springt einer von ihnen von einem Felsvorsprung ins Meer, die Jungs von weit oben, die Mädchen von einem tiefer gelegenen Felsen.

Drei Mädchen tollen im Atlantik, schnorcheln und fotografieren sich gegenseitig mit einer wasserdichten Einweg­kamera. Einer der Jungs rollt einen Joint, zündet ihn an und reicht ihn an seine Freunde weiter. Ein anderer sitzt etwas abseits, in ein Gespräch mit einem Mädchen vertieft. Eine idyllische Szene; ein wenig wirkt es, als drehe der amerikanische Fotograf und Regisseur Larry Clark einen Bacardi-Werbespot, mit normalen Menschen statt Models und mit Joints statt Rum. Ein Augenblick, eine Stimmung, wie man sie wohl nur in den magischen Jahren zwischen Kindheit und Erwachsensein erlebt und an die man später mit Wehmut zurückdenkt.

Die Jungs und Mädchen sind in diesem kleinen Tal geboren oder aufgewachsen, ihre Eltern stammen aus Frankreich, England, Spanien und Argentinien. Und vor allem aus Deutschland; sieben von ihnen haben wenigstens einen deutschen Elternteil, fast immer ist es die Mutter. Sie heißen Camille, Yanis, Joshua, Jolene, Luna, Simon, Teo und Zoe. Sie kennen sich seit frühester Kindheit, sind miteinander aufgewachsen. Dieser Frühling wird ihr letzter sein, den sie gemeinsam verbringen. Die Kinder verlassen ihre Heimat, die ihre Eltern hier einst neu gefunden haben.

Seit den späten 1970ern hat es viele Deutsche ins „Tal des großen Königs“ gezogen, oft Aussteiger auf der Suche nach Ruhe oder Heilung, nach einem anderen Lebensstil und einer neuen Perspektive, nach besserem Wetter oder der Schönheit der Natur. Für Jahrzehnte war La Gomera, war das „Valle“, wie die Deutschen es nennen, ein Sehnsuchtsort, der all das versprach. Manche kamen für einige Wochen oder Monate und blieben, oft der Liebe wegen. Mehr als zwei Dutzend der Kinder und Jugendlichen im Valle Gran Rey haben deutsche Wurzeln, die meis­ten von ihnen auch einen deutschen Pass.

Wie leben diese Jugendlichen in dem vermeintlichen Paradies, in das ihre Eltern ausgewandert sind? Wie sehen das Ringen um Identität, die Abgrenzung vom Elternhaus und die Generationskonflikte hier aus? Wo verorten diese Jugendlichen ihre Heimat, wo liegt ihre Zukunft?

Der Strand von La Playa, rund vier Kilometer die Küste hinauf, kurz vor Sonnenuntergang. An jedem halbwegs sonnigen Tag bietet sich hier das gleiche Bild: Entspannte Menschen oder solche, die Entspannung suchen, sitzen im Sand oder auf den schwarzen Steinen, die den Strand begrenzen, auf dem Betonwall, der die alte Küstenstraße vor dem Zugriff des Atlantiks schützen soll, oder auf der niedrigen Mauer, die den Vorhof einer kleinen Kapelle einfasst. Und sie bevölkern, eine Flasche Dorada-Bier oder ein Glas Wein in der Hand, die Terrasse der „Casa María“, die, nur durch eine schmale Straße vom Strand getrennt, einen freien Blick auf die am Horizont im Meer versinkende Sonne bietet. Abgesehen von den Angestellten, die an der Bar die Gäste bedienen, spricht hier fast jeder Deutsch.

Sonnenuntergang bei María, das ist seit Jahrzehnten ein Ritual im Valle Gran Rey, vor allem für die Urlauber. Zu deren Unterhaltung produzieren sich in der Wintersaison allabendlich Trommler und Jongleure, die das Naturschauspiel als Kulisse für eine Art Esoterikvarieté nutzen. Am Ende werden die Zuschauer zur Kasse gebeten. Freiwillig, natürlich.

Yanis sitzt an der Strandpromenade auf einer Mauer und isst eine Pizza. Seine Jeans sind unter dem Knie abgeschnitten, seine nackten Füße stecken in ausgetretenen Chucks. An der Mauer lehnt seine Gitarre. Ein kluger, neugieriger 16-jähriger Junge mit strahlend blauen Augen, der auf den ersten Blick auch in Berlin, Hamburg oder am Strand von Westerland sitzen könnte. Einer, der alle mit der gleichen Freundlichkeit und Offenheit behandelt – das kleine, rothaarige Mädchen, das ihn bittet, auf der Gitarre zu spielen; den alten, sonnengegerbten und zotteligen Hippie mit Schiebermütze, fadenscheiniger Hose und offensichtlichem Alkoholproblem, der schon seit 20 Jahren im Valle lebt; die Journalisten aus Deutschland.

„Als Kind ist es großartig, hier zu leben“, sagt Yanis und schaut auf die am Strand tollende, mit schwarzem Matsch beschmierte Horde, sein sechsjähriger Bruder ist auch darunter. Er wirkt dabei nachdenklich und ein wenig schwermütig. Yanis ist kein Kind mehr, seine Zeit im Paradies neigt sich dem Ende zu.


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mare No. 114

No. 114Februar / März 2016

Von Jörg Böckem und Jan Windszus

Jörg Böckem, geboren 1966, lebt in Hamburg und arbeitet als freier Journalist und Autor, unter anderem für das Zeit-Magazin. Darüber hinaus hat er fünf Bücher geschrieben, die sich mit dem Themenkreis Drogen, Rausch und Sucht beschäftigen, zuletzt High sein – Ein Aufklärungsbuch. Große Teile seiner Biografie Lass mich die Nacht überleben hat er im Valle Gran Rey geschrieben.

Jan Windszus, Jahrgang 1976, studierte Fotografie an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim, an der er heute unterrichtet. Seit 2005 lebt und arbeitet Windszus als freier Fotograf in Berlin, er veröffentlicht Porträts und Reportagen in zahlreichen Magazinen und Publikationen.

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Vita Jörg Böckem, geboren 1966, lebt in Hamburg und arbeitet als freier Journalist und Autor, unter anderem für das Zeit-Magazin. Darüber hinaus hat er fünf Bücher geschrieben, die sich mit dem Themenkreis Drogen, Rausch und Sucht beschäftigen, zuletzt High sein – Ein Aufklärungsbuch. Große Teile seiner Biografie Lass mich die Nacht überleben hat er im Valle Gran Rey geschrieben.

Jan Windszus, Jahrgang 1976, studierte Fotografie an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim, an der er heute unterrichtet. Seit 2005 lebt und arbeitet Windszus als freier Fotograf in Berlin, er veröffentlicht Porträts und Reportagen in zahlreichen Magazinen und Publikationen.
Person Von Jörg Böckem und Jan Windszus
Vita Jörg Böckem, geboren 1966, lebt in Hamburg und arbeitet als freier Journalist und Autor, unter anderem für das Zeit-Magazin. Darüber hinaus hat er fünf Bücher geschrieben, die sich mit dem Themenkreis Drogen, Rausch und Sucht beschäftigen, zuletzt High sein – Ein Aufklärungsbuch. Große Teile seiner Biografie Lass mich die Nacht überleben hat er im Valle Gran Rey geschrieben.

Jan Windszus, Jahrgang 1976, studierte Fotografie an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim, an der er heute unterrichtet. Seit 2005 lebt und arbeitet Windszus als freier Fotograf in Berlin, er veröffentlicht Porträts und Reportagen in zahlreichen Magazinen und Publikationen.
Person Von Jörg Böckem und Jan Windszus