Wildwest in Fernost

Nach dem Untergang der Sowjetunion kam die Massenarbeitslosig- keit: Im äußersten Südosten Russlands, in der Region Primorje am Japanischen Meer, bleibt den Menschen kaum mehr anderes übrig, als von illegaler Krabbenfischerei zu leben

Im äußersten Südosten Russlands, in einer Kleinstadt am Meer namens Slawjanka, besitzt Pawel Pijko eine Touristenanlage. Sie heißt „Aqua“. Das von ihm belegte Stück Strand ist voll von Booten mit verlockenden Schildern wie „Ausflüge!“, „Grotten!“, „Seehunde!“. Dazu gibt es diverse selbst gebaute Strandvergnügen. Eine Wasserrutsche etwa besteht aus vier aufeinander getürmten Müllcontainern mit einem angeschweißten halbierten Metallrohr. Oben wird durch ein Pumpsystem kaltes Wasser eingeleitet, das am unteren Rand in ein aufblasbares Becken fließt. Die Mitarbeiter, baumstarke Kerle mit nackten Oberkörpern, wuseln im Sand und bedienen die Technik.

Der Chef selbst, um die 35 Jahre mit Goldzähnen und Goldkette, das Hemd bis zum Nabel aufgeknöpft, nippt an einem Bier und wirft hin und wieder einen Blick hinüber zu den Überwachungskameras. Er ist gastfreundlich und zuvorkommend, aber irgendetwas verrät, dass er im Zorn fähig ist, seine Leute knallhart zu bestrafen. Anatoli, sein ältester Sohn, ist ein mürrischer, schweigsamer 16-jähriger Bursche. Exmatrose Andrej, Spitzname Boroda, zu deutsch „Bart“, ist ein älterer Mitarbeiter der Anlage. Die drei sind der Kern der Mannschaft, die an diesem Sommernachmittag einen Kutter besteigen und hinaus aufs Meer fahren wird.

Dass die Männer nicht zu einer Spritztour zu den Grotten aufbrechen, weiß hier jeder. Sie haben Wichtigeres vor: die Kontrolle der Reusen. Die geplante Route führt von Slawjanka bis zur Insel Stenina im Rimski-Korsakow-Archipel, gleich an der Grenze des Fernöstlichen Meeresnaturreservats, zu dem die Zufahrt ohne Genehmigung verboten ist.

 

 

Die Schutzanzüge sind angelegt, der gewaltige Yamaha-Außenbordmotor am Heck ist angeworfen. Heiß brennt die Augustsonne, doch die Ruhe ist trügerisch. Das Japanische Meer ist berühmt dafür, dass sich binnen kürzester Zeit aus dem Nichts ein Sturm entwickeln kann.

Kaum hat der Kutter die Bucht verlassen, kommt er tatsächlich, der berüchtigte Nordwind, der Schrecken der gesamten Kleinschiffflotte des Fernen Ostens. Böen zerren jetzt am Schiff, das immer wieder in tiefe Wellentäler stürzt, doch Boroda und Anatoli qualmen in aller Seelenruhe ihre Papirossy, nur ein Tänzchen an Deck fehlt noch. Boroda lacht. „Ja, so sieht es aus, das Los des Fischwilderers.“

Pawel Pijko, Boroda und Anatoli leben von illegaler Fischerei. Ein harter Job. Doch sie sind nicht die Einzigen, die ihn ausüben. Die gesamte Wasserfläche im Rajon Chassan, dem südlichsten Landkreis der Region Primorje, ist ab fünf Meter Tiefe voller illegaler Krabbenreusen. Reusen werden das ganze Jahr hindurch ausgesetzt und geleert, ohne Rücksicht auf Laichphasen, Wetter oder Tageszeit.

Gefischt wird mit allen Mitteln: mit Tauchern, mit Krabbenreusen und sogar mit Netzen, in denen alles, was lebt, innerhalb weniger Stunden zu Tode kommt. Die Wilderer müssen zusehen, dass sie ihre Ausgaben wieder hereinbekommen – ein guter Kutter kostet eine Million Rubel, umgerechnet 18 000 Euro, jede Reusenanlage eine weitere Million. Die Konkurrenz schläft nicht: Angeblich arbeiten allein in Slawjanka 15 selbstständige Wildererteams, sogenannte Brigaden, solche wie die von Pawel Pijko, die als Touristenanlagen getarnt sind.

Viele im Westen stellen sich das asiatische Russland als Reich der Kälte und Finsternis vor, das Meer dort als ewige Eiswüste. Es ist ein falsches Bild. In der Region Primorje wehen subtropische Monsunwinde, erinnert das Meer im Sommer an das Paradies der Bounty-Werbung, und Wladiwostok, die Hauptstadt der Region, liegt etwa auf der Breite von Nizza.

Für Russen östlich des Baikalsees ist Primorje eine Gegend mit erschwinglichen Badeorten. Außerdem ist das Japanische Meer eines der an Bioressourcen reichsten Gebiete. Die einzigartigen Spezies in diesen Gewässern, gigantische Krabben, Seegurken, Kammmuscheln, erfreuen sich enormer Nachfrage. Und warum sollte man die nicht stillen?


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mare No. 110

No. 110Juni / Juli 2015

Von Alexei Anastasiev und Dmitrij Leltschuk

Alexei AnastasievAlexei Anastasiev, Jahrgang 1976, Autor in Moskau, ließ es sich nicht nehmen, an seinem letzten Abend in China eine Haarkrabbe zu probieren. „Sie war in der Tat köstlich.“ Und sie war mit Sicherheit illegal aus Russland importiert.

Der weißrussische Fotograf Dmitrij Leltschuk, geboren 1975, wohnhaft in Hamburg, reiste zum ersten Mal in die Region Primorje, die als „Wilder Osten“ Russlands bekannt ist. Nicht zuletzt, weil es dort kaum asphaltierte Straßen gibt.

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Vita Alexei AnastasievAlexei Anastasiev, Jahrgang 1976, Autor in Moskau, ließ es sich nicht nehmen, an seinem letzten Abend in China eine Haarkrabbe zu probieren. „Sie war in der Tat köstlich.“ Und sie war mit Sicherheit illegal aus Russland importiert.

Der weißrussische Fotograf Dmitrij Leltschuk, geboren 1975, wohnhaft in Hamburg, reiste zum ersten Mal in die Region Primorje, die als „Wilder Osten“ Russlands bekannt ist. Nicht zuletzt, weil es dort kaum asphaltierte Straßen gibt.
Person Von Alexei Anastasiev und Dmitrij Leltschuk
Vita Alexei AnastasievAlexei Anastasiev, Jahrgang 1976, Autor in Moskau, ließ es sich nicht nehmen, an seinem letzten Abend in China eine Haarkrabbe zu probieren. „Sie war in der Tat köstlich.“ Und sie war mit Sicherheit illegal aus Russland importiert.

Der weißrussische Fotograf Dmitrij Leltschuk, geboren 1975, wohnhaft in Hamburg, reiste zum ersten Mal in die Region Primorje, die als „Wilder Osten“ Russlands bekannt ist. Nicht zuletzt, weil es dort kaum asphaltierte Straßen gibt.
Person Von Alexei Anastasiev und Dmitrij Leltschuk